Toechter Aus Shanghai
kann immer darauf zählen, dass die Menschen zur Feier kommen, wenn man voll des Ruhmes ist, doch sollte man nie damit rechnen, dass die Menschen einem im Schnee Kohlen schicken.
Ich sitze am Haupttisch zwischen meiner Schwester und meiner Tochter. Sie tun und sagen das Richtige, doch in beiden brodeln Schuldgefühle: in May, weil sie nicht da war, als es passierte, in Joy, weil sie glaubt, den Selbstmord ihres Vaters verschuldet zu haben. Ich weiß, dass ich ihnen sagen sollte, es liege nicht an ihnen. Niemand, kein Mensch hätte vorhersehen können, dass Sam so etwas Verrücktes tut. Doch durch seinen Schritt hat er Joy, den Onkeln und mir weitere Ermittlungen erspart. Wie Agent Billings zu mir sagte, als er nach Sams Tod zu uns kam: »Da Ihr Ehemann und Schwiegervater nun nicht mehr sind, können wir nichts mehr beweisen. Möglicherweise haben wir uns auch bezüglich der Organisation geirrt, der Ihre Tochter angehört. Das
wird eine gute Nachricht für Sie sein, doch ein kleiner Ratschlag noch: Wenn Ihre Tochter im September nach Chicago zurückkehrt, sollte sie sich von allen chinesischen Organisationen fernhalten, nur um auf Nummer sicher zu gehen.« Ich schaute ihn an und sagte: »Mein Schwiegervater wurde in San Francisco geboren. Mein Mann war immer ein rechtmäßiger Staatsbürger.«
Warum konnte ich so entschieden mit dem Mann von der INS umgehen und mich gleichzeitig so hilflos fühlen, als es darum geht, meine Schwester und meine Tochter zu trösten? Natürlich leiden sie beide, aber ich kann ihnen nicht helfen. Sie müssen mir helfen. Doch selbst wenn sie es versuchen - mir Tee bringen, mir ihre verheulten roten Augen zeigen, neben mir auf dem Bett sitzen, wenn ich weine -, spüre ich nur eine unendliche Traurigkeit in mir und... ja, Wut. Warum musste sich meine Tochter dieser Gruppe anschließen? Warum hat sie ihrem Vater in den letzten Wochen nicht den gebotenen Respekt erwiesen? Warum hat meine Schwester bei Kleidung, Frisuren und Ansichten immer Joys amerikanische Seite bestärkt? Warum hat meine Schwester mir und Sam bei diesen Schwierigkeiten nicht energischer geholfen? Warum hat sie sich nicht um ihren Mann gekümmert - in all den Jahren, aber ganz besonders an dem Tag, als Sam starb? Wenn sie sich um Vern gekümmert hätte, wie es sich für eine ordentliche Ehefrau gehört, hätte ich Sam noch aufhalten können. Ich weiß, dass es meine Trauer ist, die hinter diesen Gedanken steckt. Es ist leichter, die Wut zu spüren als den Schmerz um Sams Tod.
Violet und ihr Mann, die an unserem Tisch sitzen, packen mir das restliche Essen für zu Hause ein. Onkel Wilburt verabschiedet sich. Onkel Fred, Mariko und die Mädchen gehen nach Hause. Onkel Charley bleibt noch lange, doch was soll er schon sagen? Was sollen sie alle sagen? Ich nicke, gebe ihnen auf amerikanische Weise die Hand und bedanke mich für ihr Kommen, bemühe mich, eine anständige Witwe zu sein. Eine Witwe …
In der Trauerzeit sollen Freunde zu Besuch kommen, Essen mitbringen und Domino spielen, doch wie schon auf der Trauerfeier bleiben die meisten Bekannten und Nachbarn fern. Sie zerreißen sich die Mäuler, sehen aber nicht, dass meine Sorgen ohne Weiteres auch ihre Sorgen sein können. Nur Violet traut sich, uns zu besuchen. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich dankbar, dass es außer May noch jemanden gibt, der mich tröstet.
In vielerlei Hinsicht ist Violet - mit ihrer Arbeit und dem Haus in Silver Lake - weitaus besser integriert als wir, doch sie geht ein Risiko ein, wenn sie mich besucht, da sie und Rowland viel mehr zu verlieren haben als Sam und ich. Schließlich saßen Violet und ihre Familie hier in der Falle, als China die Grenzen dichtmachte. Die Arbeitsplätze von Violet und Rowland, die uns früher so stark beeindruckten, machen sie jetzt zu Zielscheiben. Vielleicht sind sie ja Spione, die man im Ausland ließ, damit sie amerikanische Technologie und Wissen hinausschmuggeln. Trotzdem überwindet Violet ihre Angst, um mich zu besuchen.
»Sam war ein guter Ochse«, sagt Violet. »Er war aufrichtig und trug die Last der Rechtschaffenheit. Er befolgte die naturgegebenen Vorschriften und schob geduldig das Rad des Schicksals. Er hatte keine Angst vor seinem Los. Er wusste, was er tun musste, um dich und Joy zu retten. Ein Ochse wird immer das tun, was nötig ist, um das Wohl seiner Familie zu mehren...«
»Meine Schwester glaubt nicht an chinesische Tierkreiszeichen«, unterbricht May sie.
Ich weiß nicht, warum sie
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