Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
Vom Netzwerk:
bis ich endlich frage: »Was meinst du damit?«
    »Nichts. Ich meinte nichts damit.«
    Meine Schwester konnte noch nie gut lügen.
    »May!«
    »Schon gut! Schon gut!« Sie lässt mein Handgelenk los, hebt die Hände und schüttelt sie enttäuscht. Dann macht sie auf ihrem hohen Absatz kehrt und trippelt ins Wohnzimmer. Ich folge ihr auf dem Fuß. Sie bleibt stehen, dreht sich um, und die Worte sprudeln hervor: »Ich habe Agent Sanders von Sam erzählt.«
    »Du hast was?!« Meine Ohren weigern sich, den Umfang ihres Verrats zu begreifen.
    »Ich habe dem FBI von Sam erzählt. Ich dachte, es würde helfen.«
    »Warum hast du das getan?«, frage ich, immer noch nicht bereit zu glauben, was sie da sagt.
    »Ich habe es für Vater Louie getan. Vor seinem Tod schien er zu spüren, dass das Ende nahte. Ich musste ihm versprechen, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Sam und dich zu schützen. Er wollte nicht, dass die Familie auseinandergerissen wird...«
    »Er wollte nicht, dass Vern mit dir allein zurückbleibt«, sage ich. Doch darum geht es hier überhaupt nicht. Was sie über Sam sagt, kann nicht wahr sein. Bitte, es darf nicht wahr sein!
    »Es tut mir leid, Pearl, es tut mir so leid.« Und dann sprudelt ihr der Rest ihres Geständnisses über die Lippen. »Agent Sanders hat mich manchmal begleitet, wenn ich nach der Arbeit nach Hause ging. Er erkundigte sich nach Joy und fragte auch nach Sam und dir. Er sagte, euer Fall böte die Gelegenheit zu einer Amnestie. Wenn ich ihm die Wahrheit über Sams Aufenthaltsstatus sagen würde, könnten wir gemeinsam dafür sorgen, dass er und du die Staatsbürgerschaft bekämen. Ich dachte, wenn ich Agent Sanders beweisen würde, dass ich eine gute Amerikanerin bin, würde er einsehen, dass auch ihr gute Amerikaner seid.
Verstehst du das nicht? Ich musste Joy schützen, aber ich hatte gleichzeitig Angst, dich zu verlieren, meine Schwester, den einzigen Menschen in meinem Leben, der mich um meiner selbst willen liebt, der mir immer zur Seite gestanden und sich um mich gekümmert hat. Wenn ihr einfach auf mich gehört hättet - euch einen Anwalt nehmen und gestehen -, hättet ihr beide Staatsbürger werden können. Du hättest nie wieder Angst haben müssen, und wir hätten nie wieder befürchten müssen, voneinander getrennt zu werden. Stattdessen habt ihr weiter gelogen, Sam und du. Der Gedanke, dass Sam sich aufhängen könnte, ist mir nie gekommen.«
    Ich habe meine Schwester von ihrer Geburt an geliebt, doch viel zu lange bin ich wie ein Mond gewesen, der sich um sie, diesen wunderschönen Planeten, dreht. Abrupt wende ich mich ab, und die Wut eines ganzen Lebens kocht in mir hoch. Meine Schwester, meine unglaublich dumme Schwester!
    »Raus hier!«
    Sie starrt mich an wie das Schaf, das sie ist - selbstgefällig und verständnislos.
    »Ich wohne hier, Pearl. Wo soll ich denn hingehen?«
    »Raus hier!«, schreie ich.
    »Nein!« Es ist eines der wenigen Male in unserem Leben, dass sie sich mir so direkt widersetzt. Dann wiederholt sie mit langsamer, rauer Stimme: »Nein. Du wirst mir jetzt einmal zuhören. Die Amnestie wäre sinnvoll gewesen. Es war die einzig sichere Option.«
    Ich schüttele den Kopf, weigere mich zuzuhören. »Du hast mein Leben ruiniert.«
    »Nein, Sam hat sein Leben ruiniert.«
    »Das ist typisch für dich, May, dass du die Schuld auf andere abwälzt.«
    »Ich hätte niemals mit Agent Sanders gesprochen, wenn ich das Gefühl gehabt hätte, es wäre gefährlich für Sam oder dich. Ich kann nicht glauben, dass du das von mir denkst.« May scheint
Kräfte zu sammeln, wie sie da in Smaragdgrün vor mir steht. »Agent Sanders und der andere haben euch unzählige Chancen gegeben …«
    »Wenn du Einschüchterung eine Chance nennst.«
    »Sam war nun mal ein Papiersohn«, fährt May fort. »Er war illegal hier. Ich werde mir für den Rest meines Lebens die Schuld an Sams Selbstmord geben, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass es richtig war, was ich für euch beide und für unsere Familie getan habe. Sam und du, ihr hättet einfach nur die Wahrheit sagen müssen...«
    »War dir nicht klar, welche Folgen das gehabt hätte?«
    »Natürlich war mir das klar! Ich wiederhole es noch mal: Agent Sanders sagte, wenn Sam und du geständig wärt, würdet ihr Amnestie erhalten. Amnestie! Eure Papiere wären abgestempelt worden, ihr wärt legale Staatsbürger geworden, und das wäre es gewesen. Aber ihr beiden wart zu stur, zu chinesisch-bäuerlich und dumm, um

Weitere Kostenlose Bücher