Toechter Aus Shanghai
bis die anderen schließlich unseren Wünschen nachgeben. Aber diese Katastrophe ist etwas anderes als der Wunsch, die Schwester im Sommerlager zu besuchen, oder das Bedürfnis, einander vor wütenden Eltern, Dienstboten und Lehrer zu beschützen.
May steigt aus dem Bett und kommt mit Zeitschriften wieder, damit wir die neueste Mode anschauen und den Klatsch lesen können. Wir kämmen uns gegenseitig die Haare. Wir durchsuchen unseren Schrank und die Kommoden, um herauszufinden, was wir aus dem Rest Neues zusammenstellen können. Der Alte Herr Louie scheint fast alle unsere chinesischen Kleider mitgenommen und uns verschiedene Sachen im westlichen Stil dagelassen zu haben - Kleider, Blusen, Röcke und Hosen. In Shanghai, wo die äußere Erscheinung beinahe alles ausmacht, ist
es wichtig, dass wir elegant und nicht schäbig aussehen, modisch und nicht von gestern. Wenn wir nicht nach dem letzten Schrei gekleidet sind, wird uns kein Maler mehr engagieren, keine Stra ßenbahn wird mehr für uns halten, die Türsteher von Hotels und Clubs könnten uns den Einlass verwehren, und die Kartenabreißer im Kino werden unsere Eintrittskarten besonders genau prüfen. Das gilt nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer; selbst wenn sie aus der Mittelschicht stammen, schlafen sie lieber in einer verwanzten Unterkunft, als auf gute Kleidung zu verzichten. So können sie sich eine schöne Hose leisten, die sie jede Nacht unter die Matratze legen, um am nächsten Tag scharfe Bügelfalten zu haben.
Hört sich das an, als hätten wir uns wochenlang versteckt? Nein, nein. Nur für zwei Tage. Weil wir jung sind, ist alles schnell vergessen. Außerdem sind wir neugierig. Wir haben zwar Geräusche vor der Tür gehört, sie jedoch stundenlang ignoriert, haben versucht, nicht auf das Hämmern und Poltern zu achten, von dem das Haus erschüttert wurde. Wir hörten fremde Stimmen, taten aber so, als wären es die Dienstboten. Als wir schließlich die Tür öffnen, hat sich unser Zuhause verändert. Baba hat den größten Teil der Möbel ans örtliche Pfandhaus verkauft. Der Gärtner ist weg, nur Koch ist geblieben, weil er sonst nirgendwohin kann und einen Schlafplatz und etwas zu essen braucht. Unser Haus wurde unterteilt, Wände wurden eingezogen, um Platz für Mieter zu schaffen: ein Polizist, seine Frau und ihre zwei Töchter sind in den hinteren Teil des Hauses gezogen, ein Student wohnt im Wintergarten im ersten Stock, den Platz unter der Treppe belegt ein Schuster, und den Dachboden haben zwei Tänzerinnen bezogen. Die Miete wird helfen, aber nicht ausreichen, um uns alle zu versorgen.
Wir dachten, wir könnten unser Leben wieder ganz normal weiterführen, und in vielerlei Hinsicht ist das auch so. Mama kommandiert immer noch alle herum, auch unsere Mieter, daher
müssen wir nicht plötzlich selbst unsere Nachttöpfe hinaustragen, die Betten machen oder fegen. Dennoch ist uns sehr bewusst, wie tief und schnell wir gesunken sind. Statt Sojamilch, Sesamkuchen und frittierter Teigstäbchen macht Koch uns zum Frühstück p’ao fan - übrig gebliebenen Reis, der in abgekochtem Wasser schwimmt, darauf ein bisschen eingelegtes Gemüse für den Geschmack. Kochs neue Sparsamkeit ist auch beim Mittag- und Abendessen zu spüren. Wir gehörten immer zu den Familien, bei denen wu hun pu ch’ih fan galt - keine Mahlzeit ohne Fleisch. Nun essen wir, was auch ein Kuli isst: Bohnensprossen, eingesalzenen Fisch, Kohl und eingemachtes Gemüse mit Unmengen von Reis.
Baba verlässt jeden Morgen das Haus, um sich Arbeit zu suchen, aber wir unterstützen ihn nicht darin und stellen ihm auch keine Fragen, wenn er abends heimkommt. Weil er uns im Stich gelassen hat, ist er für uns bedeutungslos geworden. Wenn wir ihn ignorieren - ihn durch unsere Missachtung und unser Desinteresse erniedrigen -, kann uns sein Untergang und sein Verderben nicht mehr verletzen. Das ist unsere Art und Weise, mit unserer Wut und unserer Gekränktheit umzugehen.
May und ich versuchen ebenfalls, Arbeit zu finden, aber es ist schwierig. Man braucht kuang hsi , Beziehungen. Man muss die richtigen Leute kennen - einen Verwandten oder jemanden, den man jahrelang umworben hat -, um eine Empfehlung zu bekommen. Was noch wichtiger ist: Man braucht ein hochwertiges Geschenk - eine Schweinekeule, eine Schlafzimmereinrichtung oder etwas anderes im Wert von zwei Monatsgehältern - für denjenigen, der einen vorstellt, und ein weiteres für denjenigen, der einen einstellt,
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