Toechter Aus Shanghai
Morgens lag sie dann an meinen Rücken gedrückt und hatte den Arm um mich geschlungen. Ich weiß noch ganz genau, wie ihre Hand aussah - ganz klein, ganz bleich, ganz weich, und ihre Finger so schmal wie Frühlingszwiebeln.
Mir fällt der erste Sommer ein, in dem ich ins Ferienlager nach Kuling fuhr. Mama und Baba mussten mit May zu Besuch kommen, weil sie sich so einsam fühlte. Ich war vielleicht zehn und May erst sieben. Niemand hatte mir gesagt, dass sie kommen würden, aber als sie da waren und May mich sah, rannte sie auf mich zu, blieb kurz vor mir stehen und schaute mich nur an. Die anderen Mädchen machten sich über mich lustig. Warum musste ich mich mit diesem Kleinkind abgeben? Mir war klar, dass ich ihnen besser nicht die Wahrheit erzählte: Auch ich vermisste meine Schwester und hatte das Gefühl, dass ein Teil von mir fehlte, wenn wir voneinander getrennt waren. Danach schickte Baba uns immer gemeinsam ins Ferienlager.
May und ich lachen über diese Geschichten und fühlen uns gleich besser. Sie erinnern uns daran, dass wir uns gegenseitig Kraft geben und helfen. Wir denken an Situationen, in denen wir gegen alle anderen standen, an den Spaß, den wir zusammen hatten. Wenn wir lachen können, wird dann nicht alles wieder gut?
»Weißt du noch, wie wir Mamas Schuhe anprobiert haben, als wir klein waren?«, fragt May.
Den Tag werde ich nie vergessen. Mama machte gerade einen
Besuch. Wir hatten uns in ihr Zimmer geschlichen und mehrere Schuhe für gebundene Füße herausgezogen. Meine Füße waren zu groß für die Schuhe, und ich warf sie achtlos zur Seite, nachdem ich versucht hatte, meine Zehen in ein Paar nach dem anderen hineinzuquetschen. May konnte hineinschlüpfen und trippelte auf Zehenspitzen zum Fenster und zurück, wobei sie Mamas Liliengang nachahmte. Wir kicherten und alberten herum, doch dann kam Mama nach Hause. Sie war fuchsteufelswild. May und ich wussten, dass wir ungezogen gewesen waren, aber wir konnten kaum ein Kichern unterdrücken, als Mama im Zimmer umherwackelte und versuchte, uns einzufangen, damit sie uns die Ohren lang ziehen konnte. Weil wir keine gebundenen Füße hatten und so sehr aufeinander eingespielt waren, konnten wir ihr leicht entwischen. Wir rannten durch den Gang hinaus in den Garten, wo wir lachend zusammenbrachen. Unsere Frechheit war für uns zum Triumph geworden.
Mama konnten wir immer an der Nase herumführen und ihr entkommen, aber Koch und die anderen Dienstboten brachten weniger Geduld für unseren Unfug auf und zögerten nicht, uns zu bestrafen.
»Weißt du noch, wie Koch uns beigebracht hat, chiao-tzu zu machen, Pearl?« May sitzt mir gegenüber im Schneidersitz auf dem Bett, das Kinn ruht auf ihren Fäusten, die Ellbogen auf den Knien. »Er meinte, wir müssten wenigstens irgendein Gericht zubereiten können. ›Wie wollt ihr Mädchen jemals heiraten, wenn ihr eurem Mann keine Teigtaschen machen könnt?‹, sagte er. Er hatte ja keine Ahnung, wie dumm wir uns anstellen würden.«
»Er hat uns Schürzen gegeben, aber die haben auch nichts genützt.«
»Doch, und zwar, als du angefangen hast, mich mit Mehl zu bewerfen!«, sagt May.
Was als Unterrichtsstunde begann, wurde zu einem Spiel und schließlich zu einer regelrechten Mehlschlacht, bei der wir beide wirklich wütend wurden. Koch, der bei uns lebte, seit wir nach
Shanghai gezogen waren, kannte den Unterschied zwischen zwei Schwestern, die zusammen arbeiteten, zwei Schwestern, die zusammen spielten, und zwei Schwestern, die sich stritten. Es gefiel ihm gar nicht, was er sah.
»Koch war so sauer, dass er uns monatelang nicht mehr in die Küche gelassen hat«, fährt May fort.
»Ich habe ihm immer wieder gesagt, dass ich dir nur das Gesicht pudern wollte.«
»Keine Leckerbissen. Keine Naschereien. Keine Lieblingsspeisen.« May lacht, als sie sich zurückerinnert. »Koch konnte sehr streng sein. Er hat gesagt, Schwestern, die sich streiten, darf man gar nicht erst zur Kenntnis nehmen.«
Mama und Baba klopfen an unsere Tür und bitten uns herauszukommen, aber wir sagen, wir möchten lieber noch ein bisschen in unserem Zimmer bleiben. Vielleicht ist das unhöflich und kindisch, doch May und ich gehen mit Konflikten in der Familie immer auf diese Weise um - wir verkriechen uns und bauen einen Schutzwall zwischen uns und allem, was uns verletzt oder was uns nicht gefällt. Gemeinsam, vereint, sind wir stärker, bilden wir eine Kraft, der man nicht mit Argumenten oder Vernunft beikommen kann,
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