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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Louie öffnet jede Tür, bis er das Zimmer entdeckt, in dem May weinend auf dem Bett liegt. Bei unserem Anblick stürzt sie ins Bad und schlägt die Tür zu. Wir hören, wie sie sich wieder übergibt. Der alte Mann öffnet den Schrank, greift sich einen Arm voll Kleider und wirft sie aufs Bett.
    »Die können Sie nicht mitnehmen«, sage ich. »Wir brauchen sie fürs Modellsitzen.«
    Der alte Mann korrigiert mich: »Ihr braucht sie in eurem neuen Zuhause. Männer sehen es gerne, wenn ihre Ehefrauen sich hübsch machen.«
    Er ist kalt und unbarmherzig, geht jedoch unsystematisch und ahnungslos vor. Er ignoriert unsere Kleider im westlichen Stil oder wirft sie auf den Boden, wahrscheinlich weil er nicht weiß, was dieses Jahr in Shanghai Mode ist. Die Hermelinstola nimmt er nicht, weil sie weiß ist - die Farbe des Todes -, doch er greift nach einer Fuchsstola, die May und ich vor einigen Jahren gebraucht gekauft haben.
    »Setz die mal auf«, befiehlt er mir und reicht mir einen Stapel Hüte aus dem oberen Fach des Schranks. Ich gehorche. »Das reicht. Den grünen kannst du behalten, und das Ding mit den Federn auch. Die übrigen nehme ich mit.« Wütend schaut er zu meinem Vater. »Ich schicke später Leute vorbei, die alles einpacken
sollen. Bis dahin fassen weder Sie noch Ihre Töchter hier etwas an. Haben Sie verstanden?«
    Mein Vater nickt. Der alte Mann wendet sich mir zu. Wortlos mustert er mich vom Scheitel bis zur Sohle und zurück.
    »Deine Schwester ist krank. Sei so gut und hilf ihr«, sagt er, bevor er geht.
    Ich klopfe an die Badezimmertür und rufe leise nach May. Sie öffnet die Tür einen Spalt, und ich trete ein. May liegt auf dem Boden, die Wange auf den Fliesen. Ich setze mich neben sie.
    »Ist alles in Ordnung?«
    »Ich glaube, das war der Krebs vom Abendessen gestern«, antwortet sie. »Es ist die falsche Jahreszeit dafür, ich hätte ihn nicht essen sollen.«
    Ich lehne mich gegen die Wand und reibe mir die Augen. Wie konnten zwei Kalendermädchen nur so schnell so tief fallen? Ich lasse die Arme sinken und betrachte das sich wiederholende Muster aus gelben, schwarzen und türkisen Fliesen an der Wand.
     
    Später an diesem Tag kommen Kulis, die unsere Kleider in Holzkisten packen sollen. Diese Kisten werden unter den Augen unserer Nachbarn auf einen Pritschenwagen geladen. Währenddessen kommt Sam. Statt sich an meinen Vater zu wenden, geht er direkt auf mich zu.
    »Ihr sollt mit dem Schiff nach Hongkong fahren und dort am 7. August zu uns stoßen«, sagt er. »Mein Vater hat drei Tage danach die Überfahrt für uns nach San Francisco gebucht. Hier sind eure Einwanderungspapiere. Er sagt, es wäre alles in Ordnung, wir hätten keine Probleme bei der Einreise, aber er möchte auch, dass ihr dieses Handbuch durchlest - nur für alle Fälle.« Was er mir reicht, ist kein Buch, sondern ein paar gefaltete Blätter, die per Hand zusammengenäht wurden. »Hier stehen die Antworten, die ihr den Beamten geben müsst, falls wir beim Verlassen des Schiffs Schwierigkeiten bekommen sollten.« Er hält inne und runzelt die Stirn. Wahrscheinlich gehen ihm die gleichen Gedanken
wie mir durch den Kopf: Weshalb müssen wir das Handbuch lesen, wenn alles in Ordnung ist? »Mach dir keine Sorgen«, fährt er zuversichtlich fort, als bräuchte ich die Beruhigung meines Ehemanns und würde mich durch seinen Tonfall trösten zu lassen. »Sobald wir die Einreiseformalitäten hinter uns gebracht haben, fahren wir mit einem anderen Schiff weiter nach Los Angeles.«
    Ich schaue die Papiere an.
    »Es tut mir leid«, fügt er hinzu, und ich glaube ihm beinahe. »Das alles tut mir leid.«
    Als er sich zum Gehen wendet, fällt es meinem Vater plötzlich ein, den liebenswürdigen Gastgeber zu spielen: »Darf ich Ihnen eine Rikscha holen?«
    Sam dreht sich zu mir um und antwortet: »Nein, nein, ich glaube, ich laufe lieber.«
    Ich blicke ihm nach, bis er um die Ecke gebogen ist, dann gehe ich ins Haus und werfe die Papiere, die er mir gegeben hat, in den Müll. Der Alte Herr Louie, seine Söhne und mein Vater haben einen großen Fehler begangen, wenn sie glauben, dass es nach ihrem Willen weitergeht. Bald werden die Louies auf einem Schiff sein, das sie Tausende von Meilen von hier fortbringt. Sie werden uns nicht drängen oder durch einen Trick dazu bringen können, etwas zu tun, was wir nicht wollen. Wir alle haben einen Preis für das Glücksspiel meines Vaters gezahlt. Er hat sein Unternehmen verloren. Ich habe meine

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