Toechter Aus Shanghai
Jungfräulichkeit verloren. May und ich haben unsere Kleider und damit vielleicht auch unseren Lebensunterhalt verloren. Wir wurden gekränkt, aber nach den in Shanghai geltenden Maßstäben sind wir nicht im Entferntesten arm oder bemitleidenswert.
EINE ZIKADE IM BAUM
Nachdem wir nun diese ganze aufregende, anstrengende Angelegenheit hinter uns haben, ziehen May und ich uns in unser Zimmer zurück. Es geht nach Osten und ist daher im Sommer normalerweise etwas kühler, aber heute ist es so heiß und stickig, dass wir fast nichts anhaben - nur dünne rosafarbene Seidenschlüpfer. Wir weinen nicht. Wir räumen die Kleider nicht weg, die der Alte Herr Louie auf den Boden geworfen hat, und beseitigen auch nicht das Durcheinander, das er in unserem Schrank hinterlassen hat. Wir essen, was uns Koch auf einem Tablett vor die Tür gestellt hat, aber sonst tun wir gar nichts. Wir sind beide viel zu erschüttert, um über das zu reden, was passiert ist. Wenn wir alles aussprechen und beim Namen nennen würden, dann müssten wir uns der Veränderung in unserem Leben stellen und überlegen, wie es weitergehen soll. Doch zumindest in meinem Kopf herrscht ein solches Durcheinander aus Verwirrung, Verzweiflung und Wut, dass es mir vorkommt, als wäre mir ein grauer Nebel in den Schädel gezogen. Wir legen uns auf die Betten und versuchen zu... ich weiß gar nicht, wie ich das bezeichnen soll. Uns zu erholen?
Als Schwestern verbindet May und mich eine besondere Vertrautheit. May ist der einzige Mensch, der immer zu mir hält, ganz egal, was passiert. Ich frage mich nie, ob wir gute Freundinnen sind oder nicht. Wir sind es einfach. In dieser Zeit des Unglücks - so ist es bei allen Schwestern - sind unsere kleinen Eifersüchteleien oder die Frage, welche von uns beiden mehr geliebt wird, völlig unwichtig. Wir müssen uns aufeinander verlassen.
Einmal frage ich May, was mit Vernon war. »Ich konnte es
nicht«, antwortet sie und weint. Danach stelle ich ihr keine Fragen mehr über ihre Hochzeitsnacht, und sie stellt mir keine über meine. Ich rede mir ein, dass es nicht wichtig ist, dass wir nur einen Beirag geleistet haben, um unsere Familie zu retten. Aber ganz gleich, wie oft ich mir vorsage, es sei ohne Bedeutung, nichts führt an der Tatsache vorbei, dass ich einen wertvollen Augenblick verloren habe. In Wahrheit ist der Verlust von Z. G. für mich viel schlimmer, als dass meine Familie ihren Status verloren hat oder dass ich mit einem Fremden tun musste, was Eheleute tun. Ich will meine Unschuld zurück, meine Mädchenhaftigkeit, meine Fröhlichkeit, mein Lachen.
»Weißt du noch, wie wir uns Lob der Standhaftigkeit angesehen haben?«, frage ich in der Hoffnung, May würde sich an die Zeit erinnern, als wir noch jung genug waren, um uns für unbesiegbar zu halten.
»Wir dachten, wir könnten eine bessere Oper inszenieren«, antwortet sie von ihrem Bett aus.
»Weil du jünger und kleiner warst, durftest du immer das schöne Mädchen sein. Du durftest wirklich immer die Prinzessin spielen. Ich musste der Gelehrte, der Prinz, der Kaiser und der Bandit sein.«
»Schon, aber du musst es einmal anders betrachten: Du durftest vier Rollen spielen. Ich hatte nur eine.«
Ich lächle. Wie oft haben wir uns schon über die Aufführungen gestritten, die wir für Mama und Baba im Wohnzimmer veranstalteten, als wir klein waren? Unsere Eltern klatschten und lachten. Sie aßen Wassermelonenkerne und tranken Tee. Sie lobten uns, schlugen uns aber nie vor, uns auf die Opernschule oder die Akrobatenakademie zu schicken, weil wir ziemlich fürchterlich waren mit unseren Quietschstimmen, dem Gepolter und den improvisierten Bühnenbildern und Kostümen. Wichtig war nur, dass May und ich Stunden damit zugebracht hatten, in unserem Zimmer Pläne zu schmieden, zu proben, zu Mama zu laufen, um uns einen Schal zu borgen, den wir als Schleier benutzen konnten,
oder um Koch zu bitten, mir ein Schwert aus Papier und Stärke zu basteln, damit ich es mit allen Geistern und Dämonen aufnehmen konnte, die es auf uns abgesehen hatten.
Ich denke an die Winternächte zurück, in denen es so bitterkalt war, dass May zu mir ins Bett gekrochen kam und wir uns zusammenkuschelten, um warm zu bleiben. Ich weiß noch, wie sie schlief: der Daumen lag auf dem Wangenknochen, die Spitze des Zeige- und des Mittelfingers ruhte über der Nase an der Kante der Augenbrauen, der Ringfinger leicht auf einem Augenlid, und der kleine Finger schwebte grazil in der Luft.
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