Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
Vom Netzwerk:
ihr die Füße auf, die Bandagen fliegen durch die Luft wie die Bänder von Akrobatinnen. Mamas Füße haben die Farbe eines erkalteten Leichnams - sie sind bläulich weiß mit Grün- und Lilatönen unter dem zerquetschten Fleisch. Die Soldaten drücken und zerren daran. Dann trampeln sie auf ihren Füßen herum, um sie wieder in die »normale« Form zu bringen. Mamas Schreie sind nicht vergleichbar mit den Schreien beim Füßebinden oder bei der Geburt. Sie brüllt tief und gepeinigt wie ein Tier, das Todesqualen jenseits aller Vorstellung erleidet.
    Ich schließe die Augen und versuche alles auszublenden, aber am liebsten würde ich den Mann auf mir beißen. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Frauenleichen, an denen wir heute vorbeigezogen sind. Ich will nicht, dass meine Beine auch so unnatürlich und unmenschlich verkrümmt daliegen. Etwas reißt in mir - nicht so wie in meiner Hochzeitsnacht, sondern viel schlimmer, es brennt höllisch, als würden mir die Eingeweide zerfetzt. Die Luft ist schwer und klebrig, es riecht erstickend nach Blut, dem Räucherwerk gegen die Mücken und nach Mamas bloßen Füßen.
    Ein paarmal - als Mama am schlimmsten schreit - öffne ich die Augen und sehe, was sie ihr antun. Mama, Mama, Mama möchte ich rufen, aber ich tue es nicht. Ich möchte diesen Affenmenschen nicht den Gefallen tun und mir mein Entsetzen anmerken lassen. Ich greife nach Mamas Hand. Wie soll ich den Blick zwischen uns beschreiben? Wir sind Mutter und Tochter, und wir werden beide immer wieder vergewaltigt, wahrscheinlich, bis wir sterben. In Mamas Augen sehe ich meine Geburt, die unendlichen Tragödien der Mutterliebe, das Fehlen jeglicher Hoffnung und irgendwo ganz, ganz tief in diesen dunklen Teichen eine Wildheit, wie ich sie nie gekannt habe.
    Die ganze Zeit über bete ich im Stillen, dass May in ihrem Versteck bleibt, nur ja kein Geräusch von sich gibt, der Versuchung widersteht, durch die Tür zu lugen, nichts Dummes anstellt, denn wenn ich eines nicht ertragen könnte, dann dass sie im selben Raum wie diese... diese Männer ist. Schon bald höre ich Mama nicht mehr. Ich verliere völlig das Gefühl dafür, wo ich bin und was mit mir passiert. Ich spüre nur noch Schmerz.
    Die Eingangstür geht knarrend auf, dann trampeln noch mehr Stiefel über den harten Boden. All das ist schon schrecklich genug, aber die Erkenntnis, dass noch mehr kommt, ist der schlimmste Moment. Doch ich täusche mich. Eine Stimme - wütend, autoritär und so rau wie knirschende Zahnräder - schnauzt die Männer an. Sie stehen hastig auf, ziehen ihre Hosen hoch, streichen sich die Haare glatt und wischen sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann stehen sie stramm und salutieren. Ich bleibe liegen und versuche mich möglichst nicht zu rühren, damit sie glauben, ich sei tot. Die neue Stimme brüllt Befehle - oder ist das eine Zurechtweisung? Die anderen Soldaten murren.
    Die kalte Klinge eines Bajonetts oder eines Säbels drückt gegen meine Wange. Ich reagiere nicht. Ein Stiefel tritt mich. Wieder bemühe ich mich, nicht zu reagieren - sei tot, sei tot, sei tot, dann fängt es vielleicht nicht noch mal von vorne an - aber mein Körper rollt sich unwillkürlich zusammen wie eine verwundete
Raupe. Diesmal lacht niemand, sondern es herrscht eine entsetzliche Stille. Ich warte auf den Stoß des Bajonetts.
    Ein kühler Lufthauch strömt durch den Raum, dann senkt sich sanft ein Tuch über meinen nackten Körper. Der ruppige Soldat - der direkt über mir steht, das merke ich, als er brüllend seine Befehle erteilt und ich die schlurfenden Stiefel der anderen höre, die nacheinander hinausgehen - zieht mir das Tuch über der Hüfte zurecht und geht.
    Lange ist das Zimmer von schwarzer Stille erfüllt. Dann rührt sich Mama ein wenig und stöhnt. Ich habe immer noch Angst, sage aber leise: »Still. Womöglich kommen sie zurück.«
    Vielleicht bilde ich mir nur ein, dass ich Mama das zugeflüstert habe, denn sie schenkt meiner Warnung keine Beachtung. Ich höre, wie sie näher zu mir kriecht, dann spüre ich ihre Finger auf meiner Wange. Mama, die ich körperlich immer für schwach gehalten habe, zieht mich auf ihren Schoß. Sie lehnt sich an die Wand der Lehmhütte.
    »Dein Vater hat dich Perldrache genannt«, sagt Mama und streicht mir übers Haar, »weil du im Jahr des Drachen geboren wurdest und der Drache gerne mit einer Perle spielt. Aber mir hat der Name aus einem anderen Grund gefallen. Eine Perle wächst, wenn sich ein

Weitere Kostenlose Bücher