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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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Sandkorn in der Auster einnistet. Ich war jung, erst vierzehn Jahre alt, als mein Vater meine Heirat arrangiert hat. Es war meine Pflicht, das zu tun, was Eheleute tun, und ich habe meine Pflicht erfüllt, aber was dein Vater in mir hinterlassen hat, war so unangenehm wie Sand. Doch was ist passiert? Meine Pearl, meine Perle ist herausgekommen.«
    Sie summt ein bisschen. Ich bin benommen. Der ganze Körper tut mir weh. Wo ist May?
    »An dem Tag, an dem du geboren wurdest, kam ein Taifun«, fährt Mama auf Sze Yup fort, der Sprache meiner Kindheit und der Sprache, die Geheimnisse vor May bewahrt. »Man sagt, ein Drache, der in einem Sturm geboren wird, hat ein besonders stürmisches
Schicksal zu erwarten. Du glaubst immer, dass du recht hast, und das bringt dich dazu, Dinge zu tun, die du nicht...«
    »Mama …«
    »Hör mir dieses eine Mal zu... und dann versuchst du zu vergessen... alles.« Sie beugt sich vor und flüstert mir ins Ohr. »Du bist ein Drache, und von allen Sternzeichen kann nur der Drache das Schicksal zähmen. Nur ein Drache kann die Hörner des Schicksals, der Pflicht und der Macht tragen. Deine Schwester ist bloß ein Schaf. Du warst ihr immer eine bessere Mutter als ich.« Ich bewege mich, aber Mama hält mich fest. »Widersprich mir nicht. Dafür haben wir keine Zeit.«
    Ihre Stimme klingt wunderschön. Noch nie zuvor habe ich ihre Mutterliebe so stark gespürt. Mein Körper entspannt sich in ihren Armen, treibt langsam ins Dunkel hinüber.
    »Du musst für deine Schwester sorgen«, sagt Mama. »Versprich mir das, Pearl. Versprich es mir jetzt.«
    Ich verspreche es ihr. Und dann wird mir - mir scheint, es dauert Tage, Wochen und Monate - schwarz vor Augen.

WIND ESSEN, WELLEN SCHMECKEN
    Einmal wache ich auf, als mir jemand mit einem feuchten Lappen über das Gesicht fährt. Ich öffne die Augen und sehe May - bleich, schön und zitternd wie eine Geistererscheinung. Über ihr ist der Himmel. Sind wir tot? Ich schließe die Augen wieder und spüre es schlingern und holpern.
    Als Nächstes nehme ich wahr, dass ich mich auf einer Art Boot befinde. Ich strenge mich sehr an, diesmal wach zu bleiben. Ich schaue nach links und sehe ein Netz. Ich schaue nach rechts und sehe Land. Das Boot bewegt sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Es herrscht kein Seegang, wir sind also nicht auf dem Meer. Ich hebe den Kopf. Gleich neben meinen Füßen steht ein Käfig, in dem ein etwa sechsjähriger Junge - ist er behindert, verrückt, krank? - zuckend um sich schlägt. Ich schließe die Augen und lasse mich von dem gleichmäßigen Wiegen des Bootes einlullen, während es durch das Wasser gerudert wird.
    Ich weiß nicht, wie viele Tage wir unterwegs sind. Momentaufnahmen blitzen vor meinen Augen auf und hallen mir in den Ohren wider: der Mond und die Sterne oben am Himmel, das unablässige Quaken der Frösche, der traurige Klang einer Pipa, das Platschen eines Ruders, die erhobene Stimme einer Mutter, die ihr Kind ruft, Gewehrschüsse. Eine Stimme dringt in die gepeinigten Abgründe meines Kopfes: »Stimmt es, dass tote Männer mit dem Gesicht nach unten im Wasser treiben, aber Frauen zum Himmel blicken?« Ich weiß nicht, wer die Frage stellt oder ob sie überhaupt gestellt wurde, aber ich würde lieber in die Unendlichkeit eines dunklen Ozeans hinabstarren.
    Als ich den Arm hebe, um die Augen vor der Sonne zu schützen,
rutscht mir etwas Schweres zum Ellbogen. Es ist der Jadearmreif meiner Mutter, sie ist also tot. In mir kocht das Fieber, während ich vor Kälte unkontrolliert zittere. Sanfte Hände heben mich hoch. Ich bin in einem Krankenhaus. Leise Stimmen sagen Worte wie »Morphium«, »Risswunden«, »Infektion«, »Vagina« und »Operation«. Immer wenn ich die Stimme meiner Schwester höre, fühle ich mich sicher. Wenn nicht, verzweifle ich.
    Schließlich kehre ich aus der Welt der Beinahe-Toten zurück. May döst in einem Stuhl neben dem Krankenbett. Ihre Hände sind so dick bandagiert, dass es aussieht, als hätte sie zwei große weiße Pfoten im Schoß. Ein Arzt - ein Mann! - steht über mir und legt den Zeigefinger auf die Lippen. Er nickt in Mays Richtung und flüstert: »Lassen Sie sie schlafen. Sie hat es nötig.«
    Als er sich über mich beugt, will ich unwillkürlich zurückweichen, aber ich bin mit den Handgelenken ans Bett gefesselt.
    »Sie haben einige Zeit fantasiert und sich ziemlich gegen uns gewehrt«, sagt er freundlich. »Jetzt sind Sie in Sicherheit.« Er legt mir die Hand auf den Arm. Er

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