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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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anderen.
    Am späten Nachmittag schlägt er, genau wie am Tag zuvor, wieder den Weg zu einem Bauernhaus ein, das noch ärmer zu sein scheint als das erste. Die Ehefrau, die ein Baby auf den Rücken gebunden hat, sortiert gerade Körner. Ein paar kränkliche Kinder verrichten außerordentlich träge andere Hausarbeiten. Der Mann mustert uns, überlegt anscheinend, wie viel er wohl verlangen kann. Als sein Blick auf die Füße meiner Mutter fällt, grinst er zahnlos. Wir bezahlen mehr als angemessen für ein paar trockene Plätzchen aus gemahlenem Getreide.

    Mama und May schlafen vor mir ein. Ich starre an die Decke. Eine Ratte huscht an den Wänden des Zimmers entlang, findet immer wieder etwas zu fressen. Mein ganzes Leben lang war ich verwöhnt - beim Essen, bei der Kleidung, bei meiner Schlafstatt und bei den Transportmitteln. Nun überlege ich, wie schnell May, meine Mutter, ich und andere Menschen wie wir - die stets privilegiert und gut versorgt waren - einfach hier draußen auf der Straße sterben könnten. Wir wissen nicht, was es heißt, mit fast nichts über die Runden zu kommen. Wir wissen nicht, was es braucht, um von einem Tag auf den anderen zu überleben. Aber die Familie, die hier wohnt, und die Frau, die uns letzte Nacht aufgenommen hat, die wissen das. Wenn man wenig hat, ist es nicht so schlimm, auf etwas zu verzichten.
    Am nächsten Morgen umgehen wir ein Dorf, das niedergebrannt wurde. Auf der Straße sehen wir die Menschen, deren Flucht vergeblich war: Männer, die erschossen oder von Bajonetten durchstoßen wurden, Säuglinge, die zurückgelassen wurden, und Frauen, die nur ein Oberteil tragen, die untere Körperhälfte entblößt, die blutigen Beine unnatürlich gespreizt. Kurz nach Mittag kommen wir an toten chinesischen Soldaten vorbei, die in der heißen Sonne verwesen. Einer liegt zusammengerollt da. Er hat den Handrücken im Mund, als hätte er in seinen letzten Momenten noch den Schmerz wegbeißen wollen.
    Wie weit sind wir gelaufen? Ich weiß es nicht. Vielleicht fünfzehn Meilen pro Tag? Wie weit ist es noch? Auch das weiß niemand von uns. Aber wir müssen weitergehen und hoffen, dass wir keinen Japanern begegnen, bevor wir den Kaiserkanal erreichen.
    Am Abend wiederholt unser Fahrer das Muster der letzten Tage und schiebt uns zu einer Hütte. Allerdings fehlen diesmal die Bewohner, es sieht aus, als wären sie gerade gegangen. Doch ihre Habseligkeiten wurden offenbar zurückgelassen, selbst die Hühner und Enten. Unser Fahrer sucht die Regale ab, bis er einen Krug eingesalzene Rüben findet. Unnütz und hilflos sehen wir
ihm zu, wie er Reis kocht. Wie ist es möglich, dass wir nach drei vollen Tagen immer noch nicht wissen, wie er heißt? Er ist älter als May und ich, aber jünger als meine Mutter. Trotzdem nennen wir ihn »Junge«, und er erweist uns den Respekt, den sein niedriger Rang vorschreibt. Nachdem wir gegessen haben, sucht er Räucherwerk gegen Mücken und zündet es an. Dann verlässt er die Hütte, um draußen bei seinem Schubkarren zu schlafen. Wir gehen in das andere Zimmer. Dort steht ein Bett, das aus zwei Holzböcken und drei Brettern gebaut wurde. Auf den Brettern liegen Matten und am Fuß des Bettes eine mit Baumwolle wattierte Steppdecke. Es ist zu heiß, um unter der Steppdecke zu schlafen, aber wir rollen sie über den Matten aus, damit wir ein bisschen Polsterung zwischen unseren Knochen und dem harten Holz haben.
    In dieser Nacht kommen die Japaner. Wir hören ihre Stiefel, ihre harschen, kehligen Stimmen und die Schreie, mit denen der Schubkarrenfahrer um Gnade bettelt. Ob Absicht oder nicht, durch sein Leiden und seinen Tod gewinnen wir Zeit, um uns zu verstecken. Aber wir befinden uns in einer Hütte mit zwei Räumen. Wo sollten wir uns verbergen? Mama gibt Anweisung, die Bretter von den Böcken zu nehmen und an die Wand zu lehnen.
    »Stellt euch dahinter«, befiehlt sie uns. May und ich sehen einander an. Was hat Mama nur vor? »Na los!«, zischt sie. »Beeilt euch!«
    Sobald sich May und ich hinter die Bretter gestellt haben, streckt Mama die Hand herein. Sie reicht uns das Täschchen mit ihrem Brautpreis und unsere in Seide gewickelten Papiere. »Nehmt das.«
    »Mama …«
    » Psst! «
    Sie greift nach meiner Hand und schließt sie um die Tasche und das Päckchen. Dann hören wir, wie sie einen der Holzböcke über den Boden schiebt. Die Bretter drücken gegen meine Schwester und mich, zwingen uns, das Gesicht seitlich zu drehen,
so wenig Raum hat Mama

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