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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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ist zwar Chinese, aber trotzdem ein Mann. Ich kämpfe gegen den Drang an zu schreien. Er schaut mir forschend in die Augen, dann lächelt er. »Sie haben kein Fieber mehr. Sie haben es geschafft.«
    In den folgenden Tagen erfahre ich, dass May mich in den Schubkarren gelegt und mich eigenhändig geschoben hat, bis wir den Kaiserkanal erreichten. Unterwegs musste sie viele der Sachen, die wir mitgenommen hatten, wegwerfen oder verkaufen. Nun sind die drei Kombinationen für jede von uns, unsere Papiere und das, was von Mamas Mitgift übrig ist, das Einzige, was wir noch besitzen. Am Kaiserkanal hat May mit Mamas Geld einen Fischer und seine Familie angeheuert, die uns in ihrem Sampan nach Hangchow transportierten. Ich war dem Tode nahe, als sie mich ins Krankenhaus brachte. Während ich operiert wurde, kümmerten sich andere Ärzte um Mays Hände, die vom Schieben des Schubkarrens Blasen hatten und wund gescheuert waren. Um die Behandlung bezahlen zu können, hat sie Teile
von Mamas Hochzeitsschmuck beim örtlichen Pfandleiher versetzt.
    Mays Hände heilen nach und nach, aber bei mir sind zwei weitere Operationen nötig. Eines Tages kommen die Ärzte mit finsteren Gesichtern, um mir zu sagen, dass ich wahrscheinlich keine Kinder bekommen kann. May weint, ich nicht. Wenn ich noch einmal tun müsste, was Eheleute tun, um ein Kind zu bekommen, dann würde ich lieber sterben. Nie wieder , sage ich mir. Das mache ich nie wieder.
    Nach fast sechs Wochen im Krankenhaus erklären sich die Ärzte endlich bereit, mich zu entlassen. Daraufhin verschwindet May, um Vorkehrungen für unsere Fahrt nach Hongkong zu treffen. An dem Tag, an dem sie mich abholen will, gehe ich zum Umziehen ins Badezimmer. Ich habe stark abgenommen. Die Person, die mir da aus dem Spiegel entgegenstarrt, sieht aus, als wäre sie höchstens zwölf Jahre alt - groß, schlaksig und dürr -, aber mit hohlen Wangen und dunklen Ringen unter den Augen. Mein Bubikopfschnitt ist herausgewachsen, die Haare hängen schlaff und glanzlos herunter. Weil ich so viele Tage ohne Sonnenschirm in der prallen Sonne verbracht habe, ist meine Haut rot und rau. Baba wäre wütend, wenn er mich jetzt sehen könnte. Meine Arme sind derart abgemagert, dass die Finger überlang aussehen, wie Klauen. Das Kleid im westlichen Stil, das ich ausgewählt habe, hängt an mir wie ein Vorhang.
    Als ich aus dem Bad komme, sitzt May auf meinem Bett und wartet. Sie wirft nur einen einzigen Blick auf mich und sagt, ich solle das Kleid ausziehen.
    »Es ist viel passiert, während du im Krankenhaus warst«, sagt sie. »Die Affenmenschen, die sind wie Ameisen auf der Suche nach Sirup. Sie sind überall.« Sie zögert. Bisher wollte sie nicht darüber sprechen, was in der Nacht in der Hütte passiert ist, und dafür bin ich ihr dankbar, aber es schwingt in jedem Wort, bei jedem Blick mit. »Wir dürfen nicht auffallen«, fährt sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit fort. »Wir müssen aussehen wie alle anderen auch.«
    Sie hat einen Armreif von Mama verkauft und von dem Geld alte Sachen für uns beide besorgt: schwarze Leinenhosen, wie sie die Einheimischen tragen, weite blaue Jacken und Kopftücher, unter denen wir die Haare verbergen können. Sie reicht mir die grobe Bauernkleidung. Vor May habe ich mich nie geschämt. Sie ist meine Schwester, aber nicht einmal sie dürfte mich jetzt nackt sehen. Ich gehe mit den Sachen ins Bad.
    »Ich habe noch eine Idee«, ruft sie durch die verschlossene Tür. »Ich kann nicht behaupten, dass ich selbst darauf gekommen bin, und ich weiß auch nicht, ob es funktioniert. Ich habe es von zwei chinesischen Missionarinnen gehört. Wenn du rauskommst, zeig ich es dir.«
    Als ich diesmal in den Spiegel schaue, muss ich beinahe lachen. In den letzten beiden Monaten habe ich mich vom schönen Kalendermädchen in eine jämmerliche Bäuerin verwandelt. Doch als ich aus dem Bad trete, kommentiert May mein Aussehen nicht. Sie winkt mich zu sich ans Bett. Dann holt sie ein Cremetöpfchen und eine Dose Kakaopulver hervor und stellt beides auf meinen Nachttisch. Mit dem Löffel von meinem Frühstückstablett - sie runzelt die Stirn, weil ich schon wieder nichts gegessen habe - nimmt sie etwas Creme heraus und klopft zwei große Kleckse auf das Tablett.
    »Und jetzt gib ein bisschen Kakao dazu, Pearl.« Ich schaue sie fragend an. »Vertrau mir«, sagt sie und lächelt. Ich schüttle etwas Pulver heraus, und sie rührt die widerwärtige Mischung zusammen. »Damit reiben wir uns

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