Toechter Aus Shanghai
zwei Schwestern auf dem Mond. Es waren entzückende Mädchen.« Ich weiß genau, wie es weitergeht. »Sie waren schön wie May - schlank wie Bambus, anmutig wie Weidenzweige, die sich im Wind wiegen, und ihre Gesichter waren oval wie die Kerne einer Melone. Und sie waren klug und fleißig wie Pearl - sie bestickten ihre Lilienschuhe mit zehntausend Stichen. Die Schwestern stickten mit ihren siebzig Sticknadeln die ganze Nacht hindurch. Ihr Ruhm wurde immer größer, und bald versammelten sich die Menschen auf der Erde, um ihnen zuzusehen.«
Ich kenne das Schicksal auswendig, das die beiden Märchenschwestern erwartet, aber ich spüre, dass Mama uns die Geschichte heute anders erzählen möchte.
»Die beiden Schwestern wussten, was sich für Mädchen geziemt«,
fährt sie fort. »Kein Mann sollte sie erblicken. Kein Mann sollte sie anstarren. Mit jeder Nacht wurden sie unglücklicher. Da hatte die ältere Schwester eine Idee. ›Wir tauschen einfach mit unserem Bruder.‹ Die jüngere Schwester zögerte noch, denn sie war ein wenig eitel, aber es war ihre Pflicht, den Anweisungen ihrer jie jie zu folgen. Die Schwestern zogen sich ihre schönsten roten Gewänder an - sie waren mit Drachen bestickt, die durch flammende Blüten stoßen - und besuchten ihren Bruder, der auf der Sonne lebte. Sie baten ihn, mit ihnen zu tauschen.«
May, der dieser Teil schon immer besonders gut gefallen hat, erzählt weiter. »›Am Tag laufen mehr Menschen auf der Erde herum als bei Nacht‹, spottete ihr Bruder. ›Es werden noch mehr Blicke auf euch ruhen als je zuvor.‹«
»Da weinten die Schwestern, so wie du früher, May, wenn du etwas von deinem Vater wolltest«, fährt Mama fort.
Hier liege ich nun, auf dem nackten Boden in irgendeiner armseligen Hütte, lausche meiner Mutter, die uns mit Kindergeschichten trösten möchte, und werde von bitteren Gedanken gequält. Wie kann es Mama so leichtfallen, über Baba zu reden? So schlecht er auch ist - oder war? -, sollte sie nicht um ihn trauern? Und schlimmer noch, wie kann sie mich ausgerechnet jetzt daran erinnern, dass ich ihm weniger wert bin? Selbst wenn ich geweint habe, hat Baba nie meinen Tränen nachgegeben. Ich schüttle den Kopf, versuche die unfreundlichen Gedanken über meinen Vater zu vertreiben, obwohl ich mir doch Sorgen um ihn machen sollte. Ich rede mir ein, dass ich zu müde und verängstigt bin, um richtig denken zu können. Aber selbst in dieser Not tut es weh zu wissen, dass ich nicht so geliebt werde wie meine Schwester.
»Der Bruder liebte seine Schwestern über alles und erklärte sich schließlich bereit, mit ihnen zu tauschen«, sagt Mama. »Die Schwestern packten ihre Sticknadeln zusammen und zogen in ihr neues Zuhause. Die Menschen unten auf der Erde schauten nach oben und sahen einen Mann im Mond. ›Wo sind denn die Schwestern?‹, fragten sie. ›Wo sind sie hin?‹ Wenn jetzt jemand
in die Sonne blickt, stechen die Schwestern mit ihren siebzig Sticknadeln die Menschen, die es wagen, zu lange hinzuschauen. Wer sich weigert, den Blick abzuwenden, wird blind.«
May atmet langsam aus. Ich kenne sie sehr gut. Gleich wird sie einschlafen. Unsere Gastgeberin ächzt auf ihrem Podest in der Ecke. Hat ihr die Geschichte auch nicht gefallen? Mir tut alles weh, und jetzt schmerzt auch noch mein Herz. Ich schließe die Augen, damit keine Tränen herauslaufen.
ÜBER DEN NACHTHIMMEL
Am nächsten Morgen macht die Frau Wasser warm, damit wir uns Gesicht und Hände waschen können. Sie kocht Tee und setzt jedem von uns eine Schüssel jook vor. Außerdem schmiert sie uns wieder ihre Bauernmedizin auf die Füße und gibt uns alte, aber saubere Bandagen mit, wie man sie für gebundene Füße verwendet, die wir als Verband benutzen können. Dann folgt sie uns nach draußen und hilft Mama in den Schubkarren. Mama möchte ihr Geld geben, aber die Frau winkt ab und würdigt uns keines Blickes mehr, so gekränkt ist sie.
Wir laufen den ganzen Vormittag. Über den Feldern liegt Dunst. Aus den Dörfern, an denen wir vorbeikommen, zieht der Duft von Reis herüber, der auf Strohfeuern gekocht wird. Mays grüner Hut und mein Hut mit den Federn - beide vor der Plünderung des Alten Herrn Louie gerettet - sind sorgfältig verstaut, sodass uns mit der Zeit die Haut austrocknet und rot wird. Irgendwann steigen May und ich zu Mama in den Schubkarren. Unser Fahrer klagt nie, droht nie, uns im Stich zu lassen, verlangt nie mehr Geld. Stoisch setzt er einfach einen Fuß vor den
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