Toechter Aus Shanghai
wie eine Frau schwanger werden kann. Als die kleine rote Schwester später May besuchte, habe ich ihr erzählt, was ich darüber gelernt hatte, aber über die Schwangerschaft und den Geburtsvorgang wissen wir immer noch nicht viel. Glücklicherweise sind wir jetzt mit Frauen untergebracht, die sich gut damit auskennen und mir alle möglichen Tipps geben, doch ich verlasse mich hauptsächlich auf die Ratschläge von Lee-shee.
»Wenn deine Brustwarzen klein wie Lotuskerne sind, wird dein Sohn einen hohen gesellschaftlichen Rang erreichen«, erklärt sie mir. »Sind sie aber groß wie Datteln, wird er in Armut versinken.«
Um mein yin zu stärken, soll ich in Sirup gekochte Birnen essen, doch so etwas gibt es nicht im Speisesaal. Als May Schmerzen im Unterleib bekommt, erzähle ich Lee-shee, ich litte unter einem Ziehen. Sie behauptet, solche Beschwerden kämen häufig bei Frauen vor, deren chi um die Gebärmutter herum stillsteht.
»Am besten isst man dreimal täglich fünf mit Zucker bestreute Scheibchen Daikon-Rettich«, empfiehlt sie. Ich komme natürlich unmöglich an frischen Daikon-Rettich heran, und May hat weiter Schmerzen. Deshalb verkaufe ich Mamas letztes Schmuckstück aus dem Mitgiftbeutel an eine Frau aus einem Dorf in der Nähe von Kanton. Wenn May jetzt etwas braucht, kann ich es am Kiosk kaufen oder einen der Wächter oder Köche dafür bezahlen, es mir zu besorgen. Als May Verdauungsbeschwerden bekommt, klage ich, als litte ich selbst darunter. Die Frauen in unserem Schlafsaal beratschlagen, was die beste Medizin für mich wäre, und kommen zu dem Schluss, ich sollte ganze Gewürznelken
lutschen. Die sind leicht zu bekommen, aber Lee-Shee ist noch nicht zufrieden.
»Pearl hat entweder einen schwachen Magen oder eine schwache Milz - das sind beides Anzeichen für geschwächte Erdfunktionen«, erklärt sie den anderen Frauen. »Hat hier jemand Mandarinen oder frischen Ingwer, damit wir ihr einen Tee kochen können?«
Diese Sachen sind rasch besorgt und verschaffen May Linderung, was mich froh stimmt, und das wiederum freut die anderen Insassinnen, weil sie einer schwangeren Frau helfen konnten.
Zwischen unseren Befragungen vergeht immer mehr Zeit. Das ist die übliche Vorgehensweise bei problematischen Fällen. Die Beamten glauben, wenn wir viel Zeit in den Schlafsälen verbringen, werden wir schwach, vergessen unsere auswendig gelernten Geschichten und lassen uns zu Fehlern hinreißen. Wenn man nur einmal im Monat acht Stunden hintereinander verhört wird, wie soll man sich dann genau daran erinnern, was man vor einem, vor zwei, sechs oder achtzehn Monaten gesagt hat und wie sich das zu dem Handbuch verhält, das man längst vernichtet hat, oder ob es mit dem übereinstimmt, was Verwandte und Bekannte, die nicht mehr auf der Insel sind, bei ihren Befragungen über einen selbst gesagt haben?
Ehepaare werden während ihres gesamten Aufenthalts getrennt. Dadurch können sie einander keinen Trost spenden, und was wichtiger ist, sie können auch keine Informationen über die Verhöre und die gestellten Fragen austauschen. Hielt die Sänfte am Tag ihrer Hochzeit vor dem Eingangstor oder der Eingangstür? War es wolkig oder nieselte es, als sie ihre dritte Tochter beerdigten? Wer kann sich an so etwas erinnern, wenn die Fragen und die Antworten darauf unterschiedlich interpretiert werden können? Sind denn in einem Dorf mit zweihundert Einwohnern Eingangstor und Eingangstür nicht ein und dasselbe? Kann es wichtig sein, wie der Niederschlag an dem Tag war, als diese
wertlose Tochter begraben wurde? Für die Vernehmungsbeamten ist es das anscheinend, und eine Familie, deren Antworten auf diese Fragen nicht übereinstimmen, kann über Tage, Wochen und manchmal Monate festgehalten werden.
Aber May und ich sind Schwestern und können unsere Geschichten vor den Befragungen abgleichen. Die Fragen an uns werden immer schwieriger, denn nun werden auch die Akten von Sam, Vernon, ihren Brüdern, dem Alten Herrn Louie und seiner Frau, Geschäftspartnern und Nachbarn - anderen Kaufleuten, dem zuständigen Polizisten und dem Mann, der Lieferungen für meinen Schwiegervater übernimmt - hinzugezogen. Wie viele Hühner und Enten hielt die Familie meines Ehemanns in ihrem Heimatdorf? Wo bewahren wir in Los Angeles den Reis auf und wo wird er im Anwesen der Familie Louie in ihrem Dorf Wah Hong aufbewahrt?
Wenn wir mit den Antworten zögern, werden die Beamten ungeduldig und brüllen: »Na los! Schneller!« Diese
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