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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
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getrennt werden, sondern auch beim Hofgang. Das gesamte Auffanglager ist von einem Stacheldrahtzaun umgeben, der es vom Rest der Insel absondert, nur der Hof der Männer ist doppelt eingezäunt, damit sie nicht fliehen können. Aber wohin sollten sie schon fliehen? Angel Island ist aufgebaut wie Alcatraz, die Insel, an der wir auf dem Weg hierher vorbeikamen. Auch Alcatraz ist ein ausbruchssicheres Gefängnis. Wer dumm oder waghalsig genug ist, in die Freiheit schwimmen zu wollen, wird meistens ein paar Tage später weit entfernt von hier am Ufer angespült. Der Unterschied zwischen uns und den Gefangenen auf der Nachbarinsel besteht darin, dass wir nichts verbrochen haben. Nur in den Augen der lo fan .
    In der methodistischen Missionsschule in Shanghai haben uns die Lehrerinnen von dem einen Gott und von der Sünde erzählt, von den Vorzügen des Himmels und den Schrecken der Hölle,
aber darüber, was ihre Landsleute von uns halten, haben sie uns nicht die Wahrheit gesagt. Von den weiblichen Internierten und bei den Befragungen durch die Beamten erfahren wir, dass Amerika uns nicht haben will. Nicht nur ist uns eine Einbürgerung unmöglich, die Regierung hat im Jahr 1882 auch ein Gesetz erlassen, das die Einwanderung aller Chinesen verbietet, die nicht einer dieser vier Kategorien angehören: Gesandte, Diplomaten, Studenten und Kaufleute. Egal, ob man zu einer der freigestellten Gruppen gehört oder amerikanischer Staatsbürger chinesischer Abstammung ist, man muss einen Reiseausweis vorlegen können, um einreisen zu dürfen. Dieses Dokument muss jederzeit mitgeführt werden. Ob diese Sonderbehandlung nur für Chinesen gilt? Überraschen würde mich das nicht.
    »Man kann nicht so tun, als wäre man Gesandter, Diplomat oder Student«, erklärt Lee-shee bei unserem ersten Weihnachtsessen in dem neuen Land. »Aber sich als Kaufmann auszugeben kann nicht so schwer sein.«
    »Stimmt«, pflichtet ihr Dong-shee bei, eine andere verheiratete Frau, die eine Woche nach May und mir angekommen ist. Sie ist diejenige, die uns erzählt hat, wir müssten auf dem wackelnden Maschendraht schlafen statt auf Matratzen, weil die lo fan glauben, wir fänden richtige Betten unbequem. »Die wollen keine Bauern wie uns. Die wollen auch keine Kulis oder Rikschafahrer oder Fäkaliensammler.«
    Ich denke bei mir: Welches Land wollte das schon? Solche Leute werden gebraucht, aber haben wir sie denn in Shanghai gerne gesehen? (Da merkt man wieder, dass ich immer noch nicht begreife, wo mein Platz in der Welt ist.)
    »Mein Mann hat sich in einen Laden eingekauft«, prahlt Lee-shee. »Er hat fünfhundert Dollar bezahlt, damit er Teilhaber wird. Er ist kein richtiger Teilhaber, und das Geld hat er auch nicht gezahlt. Wer hat denn schon so viel Geld? Aber er hat mit dem Inhaber ausgemacht, dass er die Schulden abarbeitet. Jetzt kann mein Mann behaupten, dass er Kaufmann ist.«

    »Und deshalb diese ganzen Befragungen?«, erkundige ich mich. »Sie suchen falsche Kaufleute? Das ist aber ein ziemlicher Aufwand …«
    »Eigentlich suchen sie Papiersöhne.«
    Als sie meinen verdutzten Gesichtsausdruck sehen, kichern die beiden Frauen. May blickt von ihrer Schüssel auf.
    »Was ist los?«, fragt sie. »Haben sie einen Witz gemacht?«
    Ich schüttle den Kopf. Seufzend widmet sich May wieder dem Schweinefuß in ihrer Schüssel. Auf der anderen Seite des Tisches tauschen die beiden Frauen wissende Blicke aus.
    »Ihr beide habt aber wirklich wenig Ahnung«, bemerkt Lee-shee. »Ist das der Grund, weshalb du und deine Schwester schon so lange hier seid? Haben euch eure Männer nicht erklärt, was ihr tun müsst?«
    »Wir sollten die Überfahrt gemeinsam mit unseren Männern und meinem Schwiegervater machen«, antworte ich wahrheitsgemäß. »Wir wurden getrennt. Die Affenmenschen...«
    Sie nicken mitleidig.
    »Man kann auch als Sohn oder Tochter eines amerikanischen Staatsbürgers nach Amerika einreisen«, fährt Dong-shee fort. Sie hat ihr Essen kaum angerührt, und die stärkehaltige Sauce geliert in ihrer Schale. »Mein Mann ist ein Papiersohn. Deiner auch?«
    »Verzeihung, aber ich weiß nicht, was das ist.«
    »Mein Ehemann hat das Papier gekauft, damit er zum Sohn eines Amerikaners wird. Jetzt kann er mich als Papierehefrau nachholen.«
    »Was heißt das, er hat ein Papier gekauft?«, frage ich.
    »Habt ihr noch nichts von Papiersöhnen und Plätzen für Papiersöhne gehört?« Als ich den Kopf schüttle, legt Dong-shee die Ellbogen auf den Tisch und

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