Toechter Aus Shanghai
Taktik funktioniert bei anderen Insassen gut. Sie bekommen so große Angst, dass sie entscheidende Fehler begehen, doch wir tun so, als wären wir verwirrt und dumm. Der Vorsitzende Plumb ärgert sich zusehends über mich. Manchmal starrt er mich eine ganze Stunde lang an und schweigt, um mich so sehr einzuschüchtern, dass ich ihm eine neue Antwort gebe. Aber ich habe ja einen Grund, weshalb ich mir Zeit lasse, und seine Versuche, mich zu drangsalieren und mir zu drohen, lassen mich nur noch ruhiger und konzentrierter werden.
May und ich nutzen die Komplexität, Schlichtheit und Beschränktheit der Fragen aus, um unseren Aufenthalt zu verlängern. Auf die Frage »Hatten Sie einen Hund in China?« antwortet May mit Ja und ich mit Nein. Zwei Wochen später konfrontieren uns die Beamten mit den unterschiedlichen Aussagen. May bleibt dabei, dass wir einen Hund hatten, während ich erkläre, wir hätten früher einmal einen Hund gehabt, den unser Vater jedoch getötet hätte, damit wir ihn als unsere letzte Mahlzeit in China
verspeisen konnten. Bei der nächsten Anhörung verkünden die Beamten, dass wir beide recht haben: Die Familie Chin besaß einen Hund, aber er wurde vor unserer Abreise verzehrt. In Wahrheit hatten wir nie einen Hund, und Koch hat uns zu Hause auch nie Hundefleisch vorgesetzt - weder von unserem noch einem anderen. May und ich lachen stundenlang über unseren kleinen Sieg.
»Wo stand bei Ihnen zu Hause die Petroleumlampe?«, fragt der Vorsitzende Plumb eines Tages. In Shanghai hatten wir Strom, aber ich erzähle ihm, die Petroleumlampe hätte auf der linken Seite des Tisches gestanden, während May sagt, sie sei immer rechts gewesen.
Diese Männer sind wirklich nicht die hellsten. Weil wir unsere chinesischen Jacken tragen, fällt ihnen weder auf, dass das Baby in May immer größer wird, noch dass ich mir Kissen und Kleider in die Hose stopfe. Nach dem chinesischen Neujahr betrete und verlasse ich das Befragungszimmer nur noch watschelnd, und ich setze und erhebe mich übertrieben mühevoll. Das wirft natürlich ganz neue Fragen auf. Ob ich sicher sei, dass ich in der einen Nacht, die ich mit meinem Ehemann verbrachte, schwanger wurde? Ob ich sicher sei, was den Zeitpunkt betrifft? Ob es vielleicht noch jemand anderen gegeben habe? Ob ich in meinem Heimatland als Prostituierte gearbeitet hätte? Ob der Vater meines Kindes auch wirklich der sei, den ich genannt habe?
Der Vorsitzende Plumb schlägt Sams Akte auf und zeigt mir die Aufnahme eines siebenjährigen Jungen. »Ist das Ihr Mann?«
Ich betrachte die Fotografie. Sie zeigt einen kleinen Jungen. Es könnte durchaus Sam sein, als er 1920 mit seinen Eltern nach China zurückkehrte; es könnte aber auch genauso gut jemand anderer sein. »Ja, das ist mein Man.«
Der Protokollant tippt alles mit, und unsere Akten werden immer dicker. Dabei erfahre ich einiges über meinen Schwiegervater, Sam, Vernon und die Familienangelegenheiten der Louies.
»Hier steht, Ihr Schwiegervater wurde 1871 in San Francisco
geboren«, sagt der Vorsitzende Plumb beim Durchblättern der Akte des Alten Herrn Louie. »Demnach wäre er siebenundsechzig Jahre alt. Sein Vater war Kaufmann. Ist das korrekt?«
Aus dem Handbuch weiß ich alles, bloß nicht das Geburtsjahr des Alten Herrn Louie. Ich wage es und antworte mit Ja.
»Hier steht, er hat 1904 in San Francisco eine Frau mit nicht gebundenen Füßen geheiratet.«
»Ich habe sie noch nicht kennengelernt, aber ich habe gehört, dass sie keine gebundenen Füße hat.«
»1907 sind sie nach China gegangen, wo ihr erster Sohn geboren wurde. Sie brachten ihn elf Jahre lang in ihrem Heimatdorf unter, bevor sie ihn hierherholten.«
Mr. White beugt sich zu seinem Vorgesetzten hinüber und flüstert ihm etwas ins Ohr. Beide blättern in den Akten. Dann zeigt Mr. White auf eine bestimmte Stelle. Der Vorsitzende Plumb nickt und sagt: »Ihre vorgebliche Schwiegermutter hat fünf Söhne. Weshalb hat sie nur Söhne bekommen? Warum wurden sie alle in China geboren? Kommt Ihnen das nicht merkwürdig vor?«
»Der jüngste Sohn wurde in Amerika geboren«, helfe ich nach.
Der Vorsitzende Plumb sieht mich an. »Aus welchem Grund sollten Ihre Schwiegereltern vier Söhne in China aufwachsen lassen, bevor sie sie hierherholten?«
Das Gleiche habe ich mich auch schon gefragt, aber ich sage, was ich auswendig gelernt habe: »Die Brüder meines Mannes sind im Dorf Wah Hong aufgewachsen, weil das Leben dort billiger ist als in Los
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