Toechter Aus Shanghai
könnten den Beamten alles erklären. Dann könntet ihr morgen schon von hier verschwinden.«
May und ich verschweigen ihr, dass unsere Männer gar nichts von unserer Ankunft wissen und erst davon erfahren dürfen, nachdem das Kind geboren ist. Aber ich muss zugeben, dass ich es manchmal als Trost empfinden würde, die Männer zu sehen - obwohl sie uns völlig fremd sind.
»Unsere Männer sind weit weg«, erklärt May Lee-shee und den anderen Frauen, die uns bemitleiden. »Das ist sehr schwer für meine Schwester, besonders jetzt.«
Die Nachmittage vergehen langsam. Während die anderen Frauen ihren Familien schreiben - man kann hier so viele Briefe schicken und empfangen, wie man will, allerdings müssen sie vorher durch die Zensur -, unterhalten May und ich uns. Oder wir schauen aus dem Fenster - geschützt mit Maschendraht, damit wir nicht fliehen - und träumen von unserem verlorenen Zuhause. Oder wir beschäftigen uns mit Nähen und Stricken, Fertigkeiten, die uns unsere Mutter nie beigebracht hat. Wir nähen Windeln und Hemdchen. Wir versuchen, Babypullover, Mützen und Schühchen zu stricken.
»Dein Sohn wird als Tiger geboren und vom Element Erde beeinflusst, das in diesem Jahr besonders stark ist«, erklärt mir eine Frau während ihres dreitägigen Aufenthalts auf Angel Island. Sie ist gerade von einer Reise in ihr Heimatdorf zurückgekehrt.
»Dein Tigerkind bringt gleichzeitig Glück und Sorgen. Dein Sohn wird liebenswert und klug, neugierig und wissbegierig, warmherzig und sportlich sein. Du wirst dich anstrengen müssen, mit ihm Schritt zu halten!«
May bleibt normalerweise still, wenn uns die Frauen gute Ratschläge geben, doch diesmal kann sie nicht an sich halten. »Wird er wirklich froh sein? Wird er ein glückliches Leben haben?«
»Glück? Im Land der Blütenflagge? Ich weiß nicht, ob Glück hier überhaupt möglich ist, aber der Tiger besitzt bestimmte Eigenschaften, die dem Sohn deiner Schwester nützen könnten. Wenn er gleichermaßen gebändigt und geliebt wird, reagiert der Tiger mit Herzlichkeit und Einsicht. Doch einen Tiger sollte man niemals belügen, dann springt er umher und schlägt um sich und stellt wilde, tollkühne Dinge an.«
»Sind das denn keine guten Eigenschaften?«, fragt May.
»Deine Schwester ist ein Drache. Der Drache und der Tiger streiten sich immer darum, wer der Ranghöhere ist. Sie muss auf einen Sohn hoffen - jede Mutter wünscht sich einen Sohn -, denn dann wird die Rangfolge eindeutiger. Jede Mutter muss ihrem Sohn gehorchen, selbst wenn sie ein Drache ist. Wenn deine Schwester allerdings ein Schaf wäre, würde ich mir Sorgen machen. Der Tiger beschützt normalerweise seine Schafsmutter, aber das funktioniert nur, wenn das Wetter schön ist und keine schweren Zeiten herrschen. Sonst lässt der Tiger das Schaf im Stich oder zerfleischt es.«
May und ich werfen uns einen Blick zu. Wir haben nicht an dieses Zeug geglaubt, als Mama noch am Leben war. Warum sollten wir es jetzt tun?
Manchmal geselle ich mich zu den Frauen, die den Sze-Yup-Dialekt sprechen, und mein Wortschatz vergrößert sich schnell. Wörter aus meiner Kindheit fallen mir wieder ein. Doch was hat es für einen Sinn, sich mit diesen Fremden zu unterhalten? Sie bleiben nie lange genug, um echte Freundschaft zu schließen,
May versteht sowieso nichts, und außerdem halten wir beide es für das Beste, wenn wir uns absondern. Wir gehen weiterhin getrennt von den anderen auf die Gemeinschaftstoiletten und in die Duschen. Den Frauen erklären wir, dass wir meinen Sohn nicht den Geistern aussetzen wollen, die sich dort aufhalten. Das ist natürlich blanker Unsinn. Ich bin nicht sicherer vor Geistern, wenn ich nur mit meiner Schwester statt mit der ganzen Gruppe zur Dusche oder zur Toilette gehe, aber die Frauen kaufen es uns ab und sind sich einig, dass meine Ängste typisch für eine werdende Mutter sind.
Die Routine wird nur zweimal in der Woche unterbrochen, wenn wir das Verwaltungsgebäude verlassen. Dienstags dürfen wir uns Sachen aus unserem Gepäck am Hafen holen. Es tut gut, an der frischen Luft zu sein, auch wenn wir uns nie etwas Neues herausnehmen. Freitags machen die Missionarinnen mit uns einen Spaziergang. Angel Island hat auch viele schöne Seiten. Wir sehen Hirsche und Waschbären. Wir lernen die Namen der Bäume: Eukalyptus, Kalifornische Steineiche, Soledadkiefer. Wir kommen an den Baracken der Männer vorbei, die nicht nur in den einzelnen Etagen und Trakten nach Rasse
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