Toechter Aus Shanghai
fertig mit uns.
»Gebt mir euren Schmuck!«, sagt er.
Ich bin schockiert. Das Hochzeitsgold gehört allein der Braut. Es ist ihr heimlicher Schatz, von dem sie zehren, sich einmal etwas gönnen kann, ohne dass ihr Mann murrt, oder den sie in
Zeiten der Not verwenden kann wie unsere Mutter, als Baba alles verloren hatte. Bevor ich protestieren kann, sagt May: »Die Sachen gehören aber uns. Das weiß doch jeder.«
»Da täuscht ihr euch«, gibt er zurück. »Ich bin euer Schwiegervater. Hier bin ich der Herr im Haus.« Wenn er sagen würde, dass er uns nicht traut, hätte er recht damit. Wenn er uns vorwerfen würde, wir wollten mit dem Gold von hier fliehen, hätte er recht damit. Stattdessen fügt er hinzu: »Glaubt ihr, du und deine Schwester - die ihr euch als Shanghaier Stadtmenschen für so klug und schlau haltet -, glaubt ihr wirklich, ihr beide wüsstet, wo ihr heute Nacht mit diesem kleinen Mädchen hinsolltet? Und morgen? Das Blut eures Vaters hat euch beide verdorben. Deshalb konnte ich euch für einen derart niedrigen Preis kaufen, aber das bedeutet nicht, dass ich gewillt bin, meine Ware so leicht zu verlieren.«
May schaut mich an. Ich bin die ältere Schwester. Ich sollte wissen, was zu tun ist, aber ich bin ganz durcheinander von allem, was wir hier sehen und erleben. Kein einziges Mal hat uns jemand gefragt, warum wir nicht zum vereinbarten Treffen mit den Louies nach Hongkong kamen, was wir durchgemacht oder wie wir überlebt haben. Dem Alten Herrn Louie und Yen-yen sind nur das Baby und die Armreife wichtig, Vernon lebt in seiner eigenen Welt, während Sam zu allem, was in seiner Familie vor sich geht, eine merkwürdige Distanz hat. Sie scheinen sich gar nicht um uns zu kümmern, trotzdem kommt es uns vor, als wären wir in einem Fischernetz gefangen. Wir zappeln herum und schnappen nach Luft, aber ich sehe keine Fluchtmöglichkeit. Zumindest noch nicht.
Wir überlassen dem alten Herrn unseren Schmuck, aber er verlangt nicht das Geld, das in unseren lai see verborgen ist. Vielleicht weiß er, dass das einfach zu viel wäre. Doch ich empfinde das nicht als Triumph, und ich sehe, dass es May genauso geht. Sie steht in der Mitte des Zimmers und wirkt resigniert, traurig und sehr, sehr allein.
Alle benutzen nacheinander die Toilette im Gang. Der Alte Herr Louie und Yen-yen gehen als Erste zu Bett. May schaut zu Vern hinüber, der sich an den Haaren zieht. Als er das Zimmer verlässt, folgt ihm May.
»Gibt es einen Platz für das Baby?«, frage ich Sam.
»Yen-yen hat etwas vorbereitet. Hoffe ich...« Er reckt das Kinn vor und seufzt.
Ich folge ihm durch den dunklen Korridor. Sams Zimmer hat keine Fenster. An der Decke hängt eine nackte Glühbirne. Den größten Teil des Raums nehmen ein Bett und eine Kommode ein. Die unterste Schublade wurde herausgezogen und mit einer weichen Decke ausgelegt, damit Joy darin schlafen kann. Ich lege sie hinein und sehe mich um. Einen Wandschrank entdecke ich nicht, aber in einer Ecke wurde als Sichtschutz ein Stück Stoff aufgehängt.
»Wo sind denn meine Kleider?«, frage ich. »Die dein Vater nach der Hochzeit mitgenommen hat?«
Sam senkt den Blick. »Die sind schon in China City. Ich bringe dich morgen hin, vielleicht darfst du ein paar von den Sachen behalten.«
Ich weiß nicht, was China City ist. Ich weiß nicht, was er damit meint, dass ich vielleicht Kleider behalten darf, weil ich im Geiste mit etwas ganz anderem beschäftigt bin: Ich muss mit diesem Mann, der mein Ehemann ist, ins Bett gehen. Obwohl May und ich so viele Pläne geschmiedet haben, kam diese Situation darin irgendwie nicht vor. Jetzt stehe ich genauso erstarrt mitten im Zimmer wie kurz zuvor May.
In der Enge beginnt Sam herumzuhantieren. Er schraubt ein Glas mit einem penetrant riechenden Inhalt auf, kniet sich hin und gießt die Flüssigkeit in vier kleine Blechdeckel, die unter den Bettpfosten klemmen. Dann hockt er sich auf die Fernsen und schraubt das Glas zu. »Petroleum, das hilft gegen Wanzen.«
Wanzen!
Er zieht sein Hemd aus, nimmt den Gürtel ab und hängt beides
an einen Haken hinter dem Vorhang. Er lässt sich auf die Bettkante fallen und starrt auf den Boden. Eine Ewigkeit scheint zu verstreichen, bis er sagt: »Es tut mir leid wegen heute.« Nach ein paar Minuten fügt er hinzu: »Alles tut mir leid.«
Ich weiß noch, wie kühn ich in unserer Hochzeitsnacht war. Das Mädchen von damals war verwegen und waghalsig wie eine Kriegerin aus alten Zeiten, aber es blieb in
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