Toechter Aus Shanghai
einer Hütte irgendwo zwischen Shanghai und dem Kaiserkanal zurück.
»Es ist zu früh nach dem Baby«, bringe ich heraus.
Mit seinen traurigen, dunklen Augen blickt Sam zu mir auf. Schließlich sagt er: »Wahrscheinlich schläfst du lieber auf der Seite, die näher an unserer Joy ist.«
Sobald er unter der Decke liegt, ziehe ich an der Schnur, mit der man das Licht ausschaltet, streife mir die Schuhe ab und lege mich auf die Decke. Ich bin dankbar, dass Sam nicht versucht, mich anzufassen. Nachdem er eingeschlafen ist, greife ich in meine Taschen und betaste die lai see .
Was entscheidet über den ersten Eindruck, den man von einem neuen Ort bekommt? Ist es die erste Mahlzeit, die man zu sich nimmt? Das erste Eis, das man isst? Der erste Mensch, dem man begegnet? Die erste Nacht, die man im neuen Bett in seinem neuen Heim verbringt? Das erste gebrochene Versprechen? Der Moment, wenn einem zum ersten Mal bewusst wird, dass man nur als potenzielle Mutter von Söhnen wahrgenommen wird? Das Wissen, dass die Nachbarn so arm sind, dass sie nur einen Dollar in dein lai see gesteckt haben, so als würde das ausreichen, um einer Frau einen geheimen Schatz zu schenken, der ihr Leben lang vorhalten soll? Die Erkenntnis, dass dein Schwiegervater, ein Mann, der in diesem Land geboren wurde, sein ganzes Leben völlig abgeschottet in Chinatowns verbracht hat und ein schlichtweg erbärmliches Englisch spricht? Der Augenblick, in dem man begreift, dass alles, was man über den Rang seiner Schwiegereltern, ihr Ansehen, ihren Wohlstand und ihr Vermögen
geglaubt hat, ebenso verkehrt ist wie das, was man über den gesellschaftlichen Status und die finanziellen Verhältnisse der eigenen Familie annahm?
Am stärksten empfinde ich Verlust, Unruhe, Unbehagen und eine unstillbare Sehnsucht nach der Vergangenheit, aber nicht nur, weil meine Schwester und ich neu an diesem seltsamen, fremden Ort sind. Es kommt mir vor, als wären alle Bewohner von Chinatown Flüchtlinge. Keiner hier ist ein Mann vom goldenen Berg - also unvorstellbar reich -, nicht einmal der Alte Herr Louie. Auf Angel Island habe ich von seinen Geschäften und dem Wert seiner Handelsware erfahren, doch hier, wo jedermann arm ist, bedeutet das gar nichts. Während der Wirtschaftskrise gab es viele Arbeitslose. Wer das Glück hatte, Familie zu haben, hat sie zurück nach China geschickt, denn es war billiger, sie dort zu versorgen, als sie hier unterzubringen und zu ernähren. Nach dem Angriff der Japaner kehrten diese Familien wieder zurück. Aber es ist gibt keine neuen Verdienstmöglichkeiten, und wie mir gesagt wird, lebe man noch beengter und unsteter als zuvor.
1933, vor fünf Jahren, wurde der größte Teil von Chinatown abgerissen, um Platz für einen neuen Bahnhof zu schaffen. Er soll auf der riesigen Baustelle entstehen, an der wir mit Sam in der Straßenbahn vorbeigefahren sind. Die Leute bekamen vierundzwanzig Stunden für den Umzug - viel weniger, als May und ich zur Verfügung hatten, als wir Shanghai verließen -, aber wo sollten sie hin? Im Gesetz ist verankert, dass Chinesen kein Eigentum besitzen dürfen, andererseits vermieten die meisten Wohnungsbesitzer nicht an Chinesen. Daher zwängen sich alle in die Häuser und die Zimmer der letzten paar Gebäude der ursprünglichen Chinatown, wo auch wir leben, oder in der City Market Chinatown, die Bauern und Händlern Platz bietet, von denen uns viele Straßen und eine Kultur trennen. Alle - ich gehöre auch dazu - vermissen ihre Familie in China, aber als ich die Fotos, die May und ich mitgebracht haben, bei mir im Schlafzimmer an die Wand hefte, schreit mich Yen-yen an: »Du Dummkopf! Willst
du uns in Schwierigkeiten bringen? Was glaubst du, was passiert, wenn die Einwanderungsbeamten kommen? Wie willst du erklären, wer diese Leute sind?«
»Das sind meine Eltern«, antworte ich. »Und das sind May und ich, als wir klein waren. Das ist doch kein Geheimnis.«
»Alles ist ein Geheimnis. Siehst du hier irgendwelche Fotos? Jetzt nimm sie ab und verstecke sie, bevor ich sie wegwerfe.«
Das ist mein erster Morgen hier. Bald stelle ich fest, dass ich zwar in einem neuen Land bin, aber in vielerlei Hinsicht kommt es mir vor, als hätte ich einen Riesenschritt zurück gemacht.
Das kantonesische Wort für Ehefrau - fu yen - besteht aus zwei Elementen. Ein Teil bedeutet Frau , der andere Teil bedeutet Besen . In Shanghai hatten May und ich Dienstboten. Hier bin ich die Dienstbotin. Warum nur ich? Ich weiß es
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