Toechter Aus Shanghai
Armreife anlegt, betrachte ich meine genauer. Es sind schöne, traditionelle und sehr teure Hochzeitsarmreife. Hier ist endlich ein greifbarer Hinweis auf den Wohlstand, den ich erwartet habe. Wenn May und ich einen Pfandleiher finden, könnten wir mit dem Geld …
»Steht hier nicht herum«, schnauzt der Alte Herr Louie. »Tut irgendwas, damit dieses Mädchen aufhört zu schreien. Wir müssen gehen.« Er sieht uns angewidert an. »Bringen wir es hinter uns.«
Innerhalb einer Viertelstunde sind wir um die Ecke gebogen, haben die Los Angeles Street überquert, sind ein paar Stufen hinaufgestiegen und haben das Restaurant Soochow betreten, wo eine Mischung aus Hochzeitsbankett und Einmonatsfeier vorbereitet ist. Platten mit rot gefärbten hart gekochten Eiern, Symbole für Fruchtbarkeit und Glück, stehen auf einem Tisch gleich am Eingang. Die Wände sind mit Hochzeitsspruchbändern geschmückt. Dünn gehobelte, süß eingelegte Ingwerscheibchen stehen auf allen Tischen, zum Zeichen für die Erwärmung meines yin nach den Strapazen der Geburt. Das Festmahl ist zwar nicht ganz so verschwenderisch, wie ich es mir in der romantischen Zeit im Atelier von Z. G. vorgestellt habe, trotzdem ist es das Beste, was wir seit Monaten gesehen haben - eine kalte Platte mit Quallen, Huhn mit Sojasauce, in Scheiben geschnittene Nieren,
Vogelnestsuppe, ein ganzer gedämpfter Fisch, Pekingente, Nudeln, Garnelen und Walnüsse - aber May und ich kommen gar nicht zum Essen.
Yen-yen - mit ihrem kleinen Enkelkind auf dem Arm - führt uns von Tisch zu Tisch und stellt uns vor. Fast jeder hier ist ein Louie, und alle sprechen Sze Yup.
»Das ist Onkel Wilburt. Und hier Onkel Charley. Und das da ist Onkel Edfred«, sagt sie zu Joy.
Diese Männer in den fast identischen Anzügen aus billigem Stoff sind Sams und Verns Brüder. Sind das die Namen, die sie bei ihrer Geburt bekamen? Das kann doch nicht sein. Es sind die Namen, die sie sich gegeben haben, um amerikanischer zu klingen, so wie May, Tommy, Z. G. und ich in Shanghai westliche Namen angenommen haben, um mondäner zu wirken.
Da May und ich schon seit einiger Zeit verheiratet sind, drehen sich die sonst auf Hochzeiten üblichen Witzeleien nicht darum, was unsere Ehemänner gleich im Schlafgemach zu leisten haben oder dass meine Schwester und ich bald gepflückt werden, sondern alles dreht sich um Joy.
»Du kochst Baby schnell, Pearl-ah!«, sagt Onkel Wilburt in gebrochenem Englisch. Aus dem Handbuch weiß ich, dass er einunddreißig ist, aber er sieht viel älter aus. »Baby viele Wochen früh!«
»Joy groß für ihr Alter!« Edfred mischt sich ein. Er ist siebenundzwanzig, sieht aber viel jünger aus. Der mao tai , den er getrunken hat, hat ihn ziemlich mutig gemacht. »Wir können zählen, Pearl-ah.«
»Sam macht dir nächste Mal Sohn!«, fügt Charley hinzu. Er ist dreißig, aber sein Alter ist schwer zu schätzen, weil er unter einer Allergie leidet und rote, geschwollene, tränende Augen hat. »Du kochst nächste Baby so gut, kommt noch früher!«
»Ihr Louie-Männer. Ihr seid doch alle gleich!«, schimpft Yen-yen. »Ihr glaubt, ihr könnt so gut zählen? Zählt doch mal, wie viele Tage meine Schwiegertöchter vor den Affenmenschen davongelaufen
sind. Ihr glaubt, ihr habt es hier schwer? Bah! Die Kleine hat Glück, überhaupt auf der Welt zu sein! Hat Glück, am Leben zu sein!«
May und ich schenken allen Gästen Tee ein und bekommen zur Hochzeit lai see geschenkt - rote Umschläge mit eingeprägten goldenen Glückszeichen, gefüllt mit Geld, das uns allein gehört - und noch mehr Gold in Form von Ohrringen, Anstecknadeln, Ringen und so vielen Armreifen, dass sie uns bis zum Ellbogen reichen würden, zögen wir sie alle gleichzeitig an. Ich kann es kaum erwarten, bis wir allein sind, um unser erstes Geld für die Flucht zu zählen und zu überlegen, wie wir den Schmuck verkaufen können.
Wie zu erwarten, bleiben auch Kommentare darüber nicht aus, dass Joy ein Mädchen ist, aber die meisten Gäste sind entzückt darüber, ein Baby zu sehen - ganz egal, ob Mädchen oder Junge. In dem Augenblick wird mir bewusst, dass die Mehrheit der Gäste Männer sind und es nur sehr wenige Ehefrauen und fast keine Kinder gibt. Was wir auf Angel Island erlebt haben, erschließt sich mir nun langsam. Die amerikanische Regierung tut alles in ihrer Macht Stehende, um die Einreise chinesischer Männer zu verhindern. Dadurch wird die Einreise für chinesische Frauen noch stärker erschwert.
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