Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa See
Vom Netzwerk:
Spielen zu. Sie haben eine Papiertüte mit zusammengeknüllten Zeitungen vollgestopft und zugebunden. Damit spielen sie Ball.
    Immerhin versucht May jetzt nicht mehr, mir etwas zu zeigen oder mich zu überreden, diese oder jene Straße zu überqueren. Wir können einfach nur dasitzen und - wenigstens ein paar Minuten - wir selbst sein. In der Wohnung sind wir nie für uns, dort kann jeder alles hören, was gesagt und getan wird. Jetzt, wo niemand lauscht, können wir frei sprechen und unsere Geheimnisse austauschen. Wir denken zurück an Mama, Baba, Tommy, Betsy, Z. G. und sogar an unsere ehemaligen Dienstboten. Wir sprechen über die Speisen, die wir vermissen, und über die Gerüche und Geräusche von Shanghai, die uns jetzt so fern vorkommen. Schließlich vertreiben wir die bedrückenden Gedanken an Menschen und Orte der Vergangenheit und konzentrieren uns stattdessen auf das, was um uns herum passiert. Ich bekomme es jedes Mal mit, wenn Yen-yen und der Alte Herr Louie tun, was Eheleute tun, weil ihre Matratze quietscht. Genauso weiß ich, dass Vern und May noch nichts dergleichen getan haben.
    »Du hast es mit Sam doch auch nicht getan«, gibt May zurück. »Du musst aber. Ihr seid verheiratet. Du hast ein Kind mit ihm.«
    »Wieso sollte ich es tun, wenn du es mit Vern auch noch nicht gemacht hast?«
    May zieht eine Grimasse. »Wie denn? Irgendwas stimmt nicht mit ihm.«
    Damals in Shanghai dachte ich, sie sei einfach nur unfreundlich zu ihm, aber jetzt, da ich mit Vern zusammenwohne und viel mehr Zeit mit ihm verbringe als May, ist mir klar, dass sie recht hat. Und das liegt nicht nur daran, dass er noch nicht zum Mann herangereift ist.

    »Ich glaube nicht, dass er zurückgeblieben ist«, sage ich, um sie aufzumuntern.
    May winkt ungeduldig ab. »Das ist es nicht. Er … er hat einen Defekt.« Sie mustert das Dach aus Zweigen über uns, als könnte sie dort eine Antwort finden. »Er spricht, aber nicht viel. Manchmal scheint er gar nicht zu verstehen, was um ihn herum passiert. Dann wieder ist er völlig besessen - zum Beispiel, wenn er diese Modellflugzeuge und -schiffe zusammenklebt, die der Alte Herr ihm immer kauft.«
    »Wenigstens kümmern sie sich um ihn«, gebe ich zu bedenken. »Erinnerst du dich an den Jungen vom Boot auf dem Kaiserkanal? Den hatte seine Familie in einen Käfig gesteckt.«
    Entweder erinnert sich May nicht oder es ist ihr egal, denn sie fährt fort, ohne darauf einzugehen: »Sie behandeln Vern, als wäre er etwas Besonderes. Yen-yen bügelt ihm seine Sachen und legt sie ihm morgens zurecht. Sie nennt ihn Kind-Mann …«
    »In der Hinsicht ist sie wie Mama. Sie verwendet immer die förmliche Anrede oder den Rang in der Familie. Sie nennt ihren Ehemann sogar Alter Herr Louie!«
    Es tut gut zu lachen. Mama und Baba hatten ihn aus Respekt so angesprochen, wir nannten ihn so, weil wir ihn nicht mochten, Yen-yen tut es, weil sie ihn als solchen sieht.
    »Sie hat keine gebundenen Füße, aber sie ist viel rückständiger, als Mama es jemals war«, fahre ich fort. »Sie glaubt an Geister, Gespenster, Zaubertränke, die Tierkreiszeichen, dass man bestimmte Sachen essen oder nicht essen soll, diesen ganzen Hokuspokus …«
    May schnaubt verächtlich und wütend. »Weißt du noch, wie ich so dumm war zu sagen, dass ich erkältet bin? Sie hat mir einen Tee aus Ingwer und getrockneten Frühlingszwiebeln gegen den Husten gekocht, und ich musste heißen Essig inhalieren, damit ich wieder frei atmen kann. Das war widerlich!«
    »Aber es hat geholfen.«
    »Schon«, gibt May zu, »doch jetzt will sie, dass ich zum Kräuterheiler
gehe, damit er mich fruchtbarer und attraktiver für den Kind-Mann macht. Sie sagt, Schaf und Schwein passen von allen Tierkreiszeichen am besten zusammen.«
    »Mama hat immer gesagt, das Schwein hat ein reines Herz, und es ist sehr ehrlich und einfach.«
    »Einfach ist Vern allerdings.« May schaudert. »Ich hab es immerhin versucht. Ich meine …« Sie zögert. »Ich schlafe in einem Bett mit ihm. Manche Leute würden sagen, der Junge kann sich glücklich schätzen, dass ich dort liege. Aber er macht einfach nichts, obwohl er dort unten alles hat, was er braucht.«
    Sie lässt das so stehen, damit ich darüber nachdenken kann. Wir befinden uns beide in einem schrecklichen Schwebezustand und schlagen die Zeit tot, doch jedes Mal, wenn ich denke, wie schlecht ich es habe, muss ich nur an meine Schwester im Zimmer nebenan denken.
    »Und wenn ich morgens in die Küche komme«,

Weitere Kostenlose Bücher