Toechter Aus Shanghai
mich vor bis zum Fußgängerweg, an dem überall bunt bemalte Sperrholzbuden stehen. Dort werden bestickte Baumwollhemden, schwere, getöpferte Aschenbecher und Lutscher feilgeboten, die aussehen wie Kirchturmspitzen. Menschen in spitzenbesetzten Kostümen fertigen Kerzen, blasen Glas und hämmern Sohlen für Sandalen, während andere singen oder Instrumente spielen.
»Leben die Leute in Mexiko wirklich so?«, fragt May.
Ich habe keine Ahnung, ob das alles irgendeine Ähnlichkeit mit Mexiko hat, aber im Vergleich zu unserer schmuddeligen Wohnung ist es fröhlich und lebendig. »Ich weiß nicht. Kann sein.«
»Wenn du das hier schon fröhlich und putzig findest, warte nur ab, bis du erst China City siehst.«
Auf halbem Weg die Straße hinunter bleibt sie plötzlich stehen. »Schau mal, das ist Christine Sterling.« Sie nickt in Richtung einer älteren, elegant gekleideten Weißen, die auf der Veranda eines Hauses sitzt, das aussieht, als wäre es aus Lehm gebaut. »Sie hat die Olvera Street errichten lassen. Und sie steht auch hinter China City. Alle sagen, sie habe ein großes Herz. Es heißt, sie will Mexikanern und Chinesen helfen, in dieser schweren Zeit eigene Geschäfte aufzubauen. Sie hatte gar nichts, als sie nach Los Angeles kam, genau wie wir. Und jetzt besitzt sie bald zwei Touristenattraktionen.«
Wir sind am Ende des Blocks angelangt. Ein paar amerikanische Autos fahren langsam die Straße entlang und hupen. In der Macy Street sehe ich die Mauer, die China City umgibt.
»Ich führe dich hin, wenn du magst«, bietet mir May an. »Wir müssen nur über die Straße.«
Ich schüttle den Kopf. »Vielleicht ein andermal.«
Als wir durch die Olvera Street zurückgehen, winkt und lächelt May den Ladeninhabern zu, doch sie erwidern weder ihr Winken noch ihr Lächeln.
Während May beim Alten Herrn Louie arbeitet und Sam alles in China City vorbereitet, machen Yen-yen und ich unsere Akkordarbeit in der Wohnung, kümmern uns um Vernon, wenn er von der Schule zurückkommt, und tragen abwechselnd Joy an den langen Nachmittagen herum, an denen sie ohne ersichtlichen Grund unablässig schreit. Aber selbst wenn ich Besuche machen könnte, zu wem sollte ich schon gehen? Auf zehn Männer kommt hier nur etwa eine Frau oder ein Mädchen. Hier geborene Mädchen,
die so alt sind wie May oder ich, dürfen normalerweise nicht mit Jungen ausgehen, und die eingewanderten chinesischen Männer wollen solche Mädchen sowieso nicht heiraten.
»Diese Mädchen sind zu amerikanisiert«, sagt Onkel Edfred, als er am Sonntag zum Essen kommt. »Wenn ich einmal reich bin, fahre ich zurück ins Heimatdorf und nehme mir eine traditionelle Frau.«
Manche Männer - Onkel Wilburt zum Beispiel - haben eine Ehefrau in China, die sie jahrelang nicht sehen. »Ich habe mit meiner Frau eine Ewigkeit nicht mehr getan, was Eheleute tun. Es ist zu teuer, dafür nach China zu fahren. Ich spare mein Geld, um dann für immer heimzukehren.«
Aufgrund dieser Denkweise bleiben die meisten Mädchen unseres Alters unverheiratet. Unter der Woche besuchen sie die amerikanische Schule und bekommen dann Chinesisch-Unterricht in einer der Missionen. Am Wochenende arbeiten sie im Betrieb ihrer Familien und gehen in die Missionen, wo sie in chinesischer Kultur unterrichtet werden. Wir haben nichts mit diesen Mädchen gemeinsam, und wir sind zu jung, um zu den anderen Ehefrauen und Müttern zu passen, die uns sehr rückständig vorkommen. Selbst wenn sie hier geboren wurden, haben die meisten von ihnen - wie auch Yen-yen - noch nicht einmal die Grundschule bis zu Ende besucht. Sie wachsen sehr isoliert, bewacht und behütet auf.
Eines Abends Ende Mai, neununddreißig Tage nach unserer Ankunft in Los Angeles und wenige Tage vor der Eröffnung von China City, kommt Sam nach Hause und sagt: »Du kannst mit deiner Schwester nach draußen gehen, wenn du magst. Ich gebe Joy das Fläschchen.«
Ich lasse sie nur ungern bei ihm, aber in den letzten Wochen habe ich gemerkt, wie gut sie darauf anspricht, wenn er sie ein wenig unbeholfen auf dem Arm hält, ihr ins Ohr flüstert oder sie am Bauch kitzelt. Da ich sehe, dass sie zufrieden ist - und da ich weiß, dass Sam froh ist, wenn ich weg bin, damit er sich nicht mit
mir unterhalten muss -, gehen May und ich hinaus in den Frühlingsabend. Wir spazieren zur Plaza, setzen uns auf eine Bank, lauschen der mexikanischen Musik, die von der Olvera Street herübertreibt, und sehen Kindern in der Sanchez Alley beim
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