Toechter Aus Shanghai
wurde. Arbeiter von MGM haben Wangs Bauernhaus aus Die gute Erde minutiös nachgestaltet, bis hin zu den Enten und Hühnern auf dem Hof. Hinter Wangs Bauernhaus schlängelt sich die Passage der hundert Überraschungen, wo dieselben Zimmerleute von MGM eine alte Schmiede in zehn Souvenirläden umgewandelt haben, in denen es Schmuckbäume, aromatisierten Tee und bestickte »spanische« Umhängetücher zu kaufen gibt, die in China hergestellt wurden. Die Wandteppiche im Tempel der Kwan Yin sind angeblich Tausende von Jahren alt, und die Statue soll aus Shanghai gerettet worden sein, als die Bomben fielen. In Wirklichkeit wurde der Tempel, wie vieles andere in China City, aus ausrangierten Kulissen von MGM zusammengebaut. Sogar die Chinesische Mauer stammt aus einem Film, allerdings muss es ein Western gewesen sein, in dem ein Fort verteidigt wurde. Christine Sterlings Entschlossenheit, das Olvera-Street-Konzept neu zu verpacken und etwas Chinesisches daraus zu machen, ging eine verheerende Verbindung mit ihrem fehlenden Verständnis für unsere Kultur, unsere Geschichte und unseren Geschmack ein.
Mein Kopf sagt mir, dass ich keine Angst haben muss. Hier laufen zu viele Menschen herum, als dass mich jemand in eine Falle locken oder mir etwas antun könnte, aber ich bin nervös
und unsicher. Wieder gerate ich in eine Sackgasse. Ich drücke Joy so fest an mich, dass sie weint. Die Leute schauen mich an, als wäre ich eine schlechte Mutter. Ich bin keine schlechte Mutter, möchte ich rufen. Das ist mein Kind. In meiner Panik denke ich, wenn ich den Haupteingang finde, könnte ich zurück in die Wohnung. Aber der Alte Herr Louie hat beim Hinausgehen die Tür abgeschlossen, und ich habe keinen Schlüssel. Aufgeregt und bang dränge ich mich mit gesenktem Kopf durch die Menschenmenge.
»Haben Sie sich verlaufen?« Neben mir erklingt der Shanghaier Wu-Dialekt in seiner reinsten Form. »Brauchen Sie Hilfe?«
Als ich aufblicke, steht ein lo fan mit weißen Haaren, Brille und einem weißen Vollbart vor mir.
»Sie sind bestimmt Mays Schwester«, sagt er. »Sind Sie Pearl?«
Ich nicke.
»Ich heiße Tom Gubbins. Die meisten nennen mich Bak Wah Tom - Kino-Tom. Ich habe hier einen Laden und kenne Ihre Schwester. Sagen Sie mir doch, wohin Sie wollen.«
»Ich soll ins Golden Dragon Café.«
»Ach ja, einer der vielen Läden, die unter ›Golden‹ firmieren. Alles, was auch nur fünf Cent wert ist, wird hier von Ihrem Schwiegervater betrieben«, sagt er wissend. »Kommen Sie mit! Ich bringe Sie hin.«
Ich kenne diesen Mann nicht, und May hat ihn nie erwähnt, aber es gibt ja vieles, was sie mir nicht erzählt hat. Trotzdem, allein der Klang des Shanghaier Dialekts aus seinem Mund erweckt alles nötige Vertrauen in mir. Auf dem Weg zum Café zeigt er mir die diversen Läden, die meinem Schwiegervater gehören. Im Golden Lantern, dem ursprünglichen Laden des Alten Herrn Louie aus Old Chinatown, werden billige Souvenirs verkauft: Aschenbecher, Zahnstocherhalter, Rückenkratzer. Durch das Fenster sehe ich, wie sich Yen-yen mit Kunden unterhält. Ein Stück weiter sitzt Vern ganz allein in einem kleinen Geschäft, dem Golden Lotus, und verkauft Seidenblumen. Ich habe den
Alten Herrn Louie vor unseren Nachbarn prahlen gehört, wie wenig es ihn gekostet habe, diesen Laden zu eröffnen: »Seidenblumen sind in China fast umsonst zu bekommen. Hier kann ich sie für das Fünffache verkaufen.« Er spottete über eine andere Familie, die einen Stand mit echten Blumen eröffnet hatte. »Die haben achtzehn Dollar für den gebrauchten Kühlschrank gezahlt. Jeden Tag geben sie fünfzig Cent für hundert Pfund Eis aus. Sie müssen Dosen und Vasen kaufen, um die Blumen hineinzustellen. Insgesamt fünfzig Dollar! Viel zu viel! Reine Verschwendung! Außerdem ist es nicht schwierig, Seidenblumen zu verkaufen, das kann sogar mein Sohn.«
Ich sehe die Spitze des Golden Pagoda, bevor wir dort angelangt sind. Von nun an muss ich einfach nur nach oben schauen, um mich zu orientieren. Das Golden Pagoda ist in einer nachgebauten fünfstöckigen Pagode untergebracht. Hier möchte der Alte Herr Louie - in eine mitternachtsblaue Mandarinrobe gekleidet - seine besten Waren an den Mann bringen: Cloisonné, feines Porzellan, Perlmuttintarsien, geschnitzte Teakmöbel, Opiumpfeifen, elfenbeinerne Mah-Jongg-Sets und Antiquitäten. Durch das Schaufenster erkenne ich May, die ein Stück links von ihm steht und mit einer vierköpfigen Familie plaudert. Sie
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