Töchter Der Finsternis
Ein kurzer Schauder überlief Mary-Lynnette.
„Ziehen wir sie raus", schlug Rowan vor.
„Das Fell ist sowieso ruiniert", meinte Kestrel.
„Kestrel, bitte ..."
Mary-Lynnette stand auf. „Halt den Mund, Kestrel!" schrie sie.
Es entstand eine Pause. Zu Mary-Lynnettes Erstaunen blieb es still. Kestrel hielt wirklich den Mund.
Mary-Lynnette und Rowan begannen, die kleinen Holzstöcke aus dem Körper der Ziege zu ziehen.
Einige waren winzig wie Zahnstocher, andere länger und dicker als Mary-Lynnettes Finger und hatten ein stumpfes Ende. Jemand, der sehr stark ist, hat das getan, dachte Mary-Lynnette. Stark genug, um Holzsplitter durch die Haut einer Ziege zu stoßen.
Wieder und wieder, hunderte Male. Die Ziege glich einem Stachelschwein.
„Sie hat nicht viel geblutet", sagte Rowan leise. „Das heißt, sie war schon tot, als es gemacht wurde. Schau hier." Sie berührte sanft Ethyls Hals. Das weiße Fell war dort blutrot. Genau wie bei dem Reh, dachte Mary-Lynnette.
„Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten oder durchgebissen. Es ist schnell passiert, und sie hat nicht gelitten. Nicht wie bei ..."
„Wie bei wem?" fragte Mary-Lynnette.
Rowan zögerte. Sie schaute zu Jade hoch. Jade wischte sich gerade die Nase an Marks Schulter ab.
Rowan sah wieder zu Mary-Lynnette. „Nicht wie bei Onkel Hodge." Sie schaute zurück nach unten, zog vorsichtig ein weiteres Holzstück heraus und legte es auf den Haufen, der sich langsam ansammelte. „Du musst wissen, die Ältesten haben Onkel Hodge auf diese Art getötet. Nur war er noch lebendig, als sie es taten."
Einen Moment war Mary-Lynnette sprachlos. Dann fragte sie: „Warum?"
Rowan zog zwei weitere Stäbchen heraus. Ihr Gesicht war gefasst und entschlossen. „Weil er einem Menschen von der Night World erzählt hat."
Mary-Lynnette setzte sich auf die Fersen zurück und schaute Mark an.
Mark ließ sich zusammen mit Jade auf dem Boden nieder.
„Deshalb hat Tante Opal die Insel verlassen", fügte Rowan hinzu.
„Und jetzt hat jemand Tante Opal gepfählt", sagte Kestrel. „Und jemand hat die Ziege fast auf die gleiche Art getötet, wie Onkel Hodge getötet wurde."
„Aber wer?" fragte Mary-Lynnette.
Rowan schüttelte den Kopf. „Jemand, der sich mit Vampiren auskennt."
Marks blaue Augen sahen ein bisschen glasig aus und waren noch dunkler als sonst. „Du hast vorhin einen Vampirjäger erwähnt", sagte er zu ihr.
„Das ist auch meine Theorie", warf Kestrel ein.
„Okay, aber wer hier in der Gegend ist ein Vampirjäger? Und vor allem, was ist ein Vampirjäger?"
„Das ist das Problem." Rowan seufzte. „Ich weiß nicht, wie man einen erkennen kann. Ich bin noch nicht mal sicher, ob ich an Vampirjäger glaube."
„Das sollen Menschen sein, die über die Night World Bescheid wissen", erklärte Jade und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. „Und sie können andere Menschen nicht davon überzeugen - oder vielleicht wollen sie auch nicht, dass andere davon erfahren. Also jagen sie uns. Sie versuchen, uns einen nach dem anderen zu töten. Und sie sollen angeblich so viel über die Night World wissen wie die Wesen darin selbst."
„Du meinst, dass sie vielleicht auch wissen, wie euer Onkel umgekommen ist?" fragte Mary-Lynnette.
„Ja, aber das ist auch kein großes Geheimnis", antwortete Rowan. „Ich meine, man muss nicht unbedingt von Onkel Hodges Schicksal wissen, um darauf zu kommen. Es ist eine traditionelle Hinrichtungsart bei den Lamia. Es gibt nicht viele Dinge, außer Pfählen und Verbrennen, mit denen man einen Vampir töten kann."
Mary-Lynnette dachte darüber nach. Das brachte sie auch nicht viel weiter. Wer sollte schon eine alte Dame und eine Ziege töten wollen?
„Rowan? Warum hat eure Tante die Ziegen gehalten? Ich meine, ich habe immer gedacht, wegen der Milch, aber ..."
„Es war für das Blut, da bin ich sicher", sagte Rowan ruhig. „Wenn sie so alt ausgesehen hat, wie du sagst, dann konnte sie vermutlich nicht mehr in die Wälder gehen, um zu jagen."
Mary-Lynnette schaute wieder auf die Ziege und versuchte, ein guter, unvoreingenommener Beobachter zu sein und andere Anhaltspunkte zu finden. Als ihr Blick auf Ethyls Kopf fiel, lehnte sie sich unwillkürlich vor.
„Ich glaube, da steckt etwas in ihrem Maul."
„Bitte sag, dass das ein Scherz ist", bat Mark.
Mary-Lynnette machte nur eine abwehrende Handbewegung in seine Richtung. „Ich kann nicht... ich brauche noch etwas ... Eine Sekunde." Sie lief in die
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