Töchter der Sechs (German Edition)
andere Länder und eines davon sollte sie nun bereisen.
Da sie nicht gewusst hatte, wie sie mit dieser Nachricht umgehen und was sie tun sollte, war sie einfach wieder an ihre Arbeit gegangen. Ihre Mutter hatte sie gewähren lassen, den Brief säuberlicher zusammengefaltet und auf einen Stapel Holz gelegt, und war gegangen. Immer wieder schweiften Darija Blicke hinüber zu dem Schriftstück. Was, wenn es wahr war? Aber nein, die Oberpriesterin musste sich irren. Sie verfügte über keine besonderen Gaben. Ihre Eltern waren von den Göttern mit solchen gesegnet worden, bevor sie die Aufgabe erhielten, Cytria zu retten. Sie jedoch, was konnte sie schon beitragen?
Während sie nachdachte, verrichteten ihre Hände wie von selbst ihre Arbeit. Ihr Hobel glitt über den Rumpf, um die letzten unebenen Verbindungsstellen zu glätten. Morgen würde sie eine letzte Schicht des schützenden Öls auftragen können, mit dem das Holz schon vor dem Zusammenfügen der Einzelteile getränkt worden war, um es haltbarer gegen das Meerwasser zu machen. Danach konnte sie mit dem Bau des Decks beginnen. Wenn sie weiter so gut vorankäme, wäre das Schiff in zwei Monden seetauglich.
Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Das Schiff war ihr Beitrag. Damit konnte sie der Unternehmung dienen. Aber wenn dem so war, dann hatte die Oberpriesterin recht und sie war eine der drei Auserwählten. Über die anderen beiden hatte sie aus dem Brief nur wenig erfahren. Es handelte sich um einen Gelehrten und eine junge Priesterin. Die beiden würden Ende des nächsten Mondes in Jal eintreffen, um mit ihr gemeinsam den Weg in den Uralt-Wald anzutreten. Warum sie die beiden dorthin begleiten sollte, erschloss sich ihr nicht. Sollte sie nicht besser das Schiff fertigstellen. Oder erwartete man etwa, dass sie bis dahin fertig wäre? Das konnte sie unmöglich schaffen. Die Überfahrt von Jal zum Festland wäre allerdings eine gute Möglichkeit, ihr Schiff zu testen, bevor sie damit ins Ungewisse aufbrachen. Daher hieß es, keine Zeit zu verlieren und mit dem Bau so schnell als möglich fortzufahren. Außerdem würde sie das ablenken, sodass ihr keine Gelegenheit für einen angstvollen Blick in die Zukunft bliebe.
Carlynn wusste, dass sie das Richtige getan hatte, als sie ihre Tochter allein ließ, damit diese den Inhalt des Briefes überdenken konnte. Es wäre sinnlos gewesen, sie sogleich mit ihren Ansichten dazu zu bestürmen. Darija hatte sich stets schwer getan, ihre Gefühle auszudrücken, bevor sie nicht gründlich über sie nachgedacht hatte. Wenn ihre Tochter so weit war, würde sie zu ihr kommen und mit ihr darüber sprechen. Auch für Carlynn war die Nachricht aus Aaran ein Schock gewesen. Zwar war sie durch Yerina über die Schrift auf dem Heiligen Würfel und die Versuche der Entschlüsselung informiert gewesen. Sie hatte jedoch nicht damit gerechnet, dass es sie so direkt betreffen würde. Ohne es zu merken, hatte sie den Weg zum Tempel von Jal eingeschlagen. Als sie vor dem Sandsteingebäude stand, zögerte sie kurz, bevor sie es betrat. Sie war sich nicht sicher, ob sie, aufgewühlt wie sie war, die richtigen Worte für ein Gebet finden würde. Jetzt, kurz vor Mittag, war es ruhig im Tempel. Die meisten Bewohner Jals gingen ihren täglichen Geschäften nach. Sie kniete nieder und begann, leise zu beten. Zunächst bat sie die Götter nur darum, dass sie ihre Tochter beschützen würden, wenn sie ihr schon eine solche Aufgabe zudachten. Dann jedoch brachen ihre Gefühle aus ihr heraus und ihr Gebet wurde eine stille Anklage. Warum mussten die Götter ausgerechnet ihr Kind auswählen. Hatten sie und Aden sich nicht schon genug um Cytrias Wohl verdient gemacht, hatten sie damals keine Opfer gebracht? Musste nun noch ihre einzige Tochter in die Fremde ziehen? Was war, wenn es diesmal nicht gut enden würde? Wenn es diesmal Darija wäre, die ihr Leben hingeben musste, wie es einst der Soldat Roji getan hatte? Wut und Verzweiflung hielten ihr Herz umklammert und Tränen liefen über ihr Gesicht. Dann aber gewann die Vernunft wieder die Oberhand. Noch war nicht einmal sicher, ob ihre Tochter wirklich auserwählt war. Und selbst wenn, dann würde ihr eine verzagte Mutter keine Hilfe sein. Sie musste ihrer Tochter eine Stütze sein und ihr Mut machen. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann ersuchte sie die Götter um Verzeihung und um Kraft. Gestärkt verließ sie den Tempel, um ihren Mann aufzusuchen. In
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