Töchter der Sechs (German Edition)
Obgleich das Haus ohnehin schon eng war, – sie hatten das Wohnzimmer in ein Zimmer für die beiden Söhne umbauen müssen – liebte ihre Mutter es, Gäste zu empfangen. Nachdem sie nach dem Austausch allerlei Höflichkeiten zunächst geschwiegen hatten, hatte sie allmählich ein Gespräch entwickelt, sodass sie munter schwatzend am Haus angekommen waren. Sie tauschten sich aus über ihr bisheriges Leben und stellten Vermutungen an über das, was ihnen bevorstand. Dabei traten unterschiedliche Einstellungen zutage. Während sich Zada mehr oder weniger ohne Murren dem Willen der Götter unterwarf, war Mawen getrieben von Forscherdrang. Sie selbst schwankte noch zwischen Abenteuerlust und Unwillen darüber, dass sie ihr gewohntes Leben hinter sich lassen sollte.
Jahr 3619 Mond 5 Tag 19
Jal
Der Aufenthalt in Jal war kurz gewesen und Zada bedauerte den bevorstehenden Abschied. Im Haus von Carlynn und Aden hatte sie die Ruhe und Erholung gefunden, die ihr die vorangegangenen Monde gefehlt hatte. Erst am Morgen hatte Mawen gemeint, dass sie frischer und erholter aussah als jemals zuvor. Auch würde sie Carlynns und Adens Herzlichkeit und Freundlichkeit vermissen. Obgleich sie die beiden erst so kurze Zeit kannte, konnte sie gut verstehen, warum ihr Vater und Yerina die beiden so sehr schätzten.
Die Kinder der beiden hatten diese Eigenschaften von ihren Eltern übernommen, wenn auch jeder auf seine Weise. Der Jüngste, Jaren, ein zarter Knabe von fast fünfzehn Jahren, war ruhig, fast scheu, wem er sich öffnete, dem offenbarte er ein empfindsames Selbst, fähig Mitleid mit jedem leidenden Geschöpf zu verspüren. Kein Wunder, dass der blonde, blauäugige Junge derjenige war, der die filigrane, künstlerische Arbeit von seiner Mutter erlernte und der später den Familienbetrieb fortführen würde.
Auf den ersten Blick unterschied sich Roji deutlich von seinem jüngeren Bruder. Obwohl gerade erst sechzehn, hatte er schon die Statur eines Mannes, sein großer, muskulöser Körper konnte schon einschüchternd wirken, doch sobald er sein Gesicht zu einem Lächeln verzog, das sich häufig in ein herzhaftes, warmes Lachen steigerte, offenbarte er seine wahre Natur. Obgleich er die Menschen in seiner Umgebung gerne neckte, meinte er es niemals böse, sie bezweifelte, dass er jemals irgendwem ein Leid zufügen könnte.
Von den drei Geschwistern war es Darija, die am schwersten einzuschätzen war. Obgleich Zada in den letzten sechs Tagen viel Zeit mit der Schiffbauerin verbracht hatte, konnte sie sie nur schwer durchschauen. Während sich die Empfindsamkeit ihres jüngsten Bruders auch in seiner Erscheinung widerspiegelte, strahlte ihr Äußeres eine Robustheit aus, die ihrem inneren Wesen fremd war. Doch dies konnte nur erkennen, wer sie gründlich beobachtete, denn Darija zeigte ihre Gefühle kaum einmal. Als am Tag nach Mawens und ihrer Ankunft Darijas Schiff zu Wasser gelassen worden war, die Testfahrt mehr als zufriedenstellend verlaufen war und sie Lob von allen Seiten erhalten hatte, hatte sie weder Stolz noch Erleichterung gezeigt, obwohl sie sicher beides empfunden hatte. Auch wenn es um die bevorstehende gemeinsame Reise ging, hatte Zada lange gebraucht, um Darijas Ängste und Unsicherheit diesbezüglich zu entdecken. Noch immer war sie nicht sicher, ob sie ihre Reisegefährtin richtig einzuschätzen vermochte. Für sie stand es jedoch außer Frage, dass Darija ein guter Mensch war und dass sie sich während der gemeinsamen Mission auf sie würde verlassen können. Das mussten sie auch, denn schließlich war Darija diejenige, die das Schiff steuern würde.
Im schwachen Licht der Morgendämmerung trafen sie die letzten Vorbereitungen für das Auslaufen. Der Proviant wurde am Bord gebracht und sie überprüfte noch einmal die Takelage. Der Zeitpunkt des Abschieds rückte näher, doch während die letzten Tage von Aufregung und Unsicherheit geprägt gewesen waren, fühlte Darija jetzt eine tiefe innere Ruhe und Gelassenheit. Sie würde es schaffen. Sie verfügte über ein gutes Schiff und verstand es zu lenken, schon am nächsten Abend würden sie Syyn sicher erreicht haben. Von dort würden sie zunächst zu Fuß weiterreisen. Ihr Vater trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter. „Dein Schiff ist sehr gut, es wird euch sicher über das Meer bringen, und deine Segelkünste können mit denen eines erfahrenen Seemannes mithalten.“ Ihr Lehrmeister hatte sich am Vorabend ähnlich geäußert,
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