Töchter der Sechs (German Edition)
zogen sich für Darija scheinbar endlos dahin. Selbst das Essen schmeckte bald fade und eintönig. Wann immer ein Diener oder eine Wache sie aufsuchten, hatte Mawen um eine erneute Unterredung mit dem König gebeten, doch stets war sie ihnen verwehrt worden. Was, wenn der König sie auf ewig gefangen halten wollte? Offensichtlich war er noch immer davon überzeugt, dass sie Spione waren. Auch hatte Mawen ihn nicht davon überzeugen können, dass eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu Cytria in beiderseitigem Interesse war. Als Mawen die Legende, die den Wohlstand des Goldenen Zeitalters beschrieb, erwähnte, hatte der König diese ebenso abgetan wie jedweden Hinweis auf die Götter. Darija vermutete, dass hinter dieser Haltung Angst steckte. Aus den zwei Gesprächen mit ihnen hatte der König erfahren, dass es in Cytria keinen König mehr gab und dass die Menschen sich nicht nur weltlichen Gesetzen, sondern auch denen der Götter beugten. Wenn dies in Helwa bekannt würde, so könnten dessen Bewohner die alleinige Macht des Königs infrage stellen. Aus den Erzählungen ihrer Eltern wusste Darija, was Machtbesessenheit anrichten konnte. Der letzte König Cytrias hatte einen Krieg gegen sein einiges Volk geführt, weil es ihm nicht die alleinige Macht zugestehen wollte. Möglicherweise fürchtete der König sie wegen ihres Wissens um eine andere Regierungsform mehr als wegen ihrer möglichen Tätigkeit als Spione. Je länger sie hier festsaßen, desto geringer schätzte sie die Chancen ein, jemals das Land erkunden zu dürfen, so wie es der König es ihnen bei ihrem ersten Zusammentreffen in Aussicht gestellt hatte. Die einzige Möglichkeit, an ihrer Situation etwas zu ändern, sah sie darin, dem König ihre Dienste anzubieten. Vielleicht wäre er an Mawens Fähigkeiten als Gelehrter interessiert. Auch ihre Fertigkeiten im Schiffbau wären eventuell von Interesse. Auch wenn sie die Aussichten auf Erfolg wegen ihres mangelnden Wissens über Helwa nicht einzuschätzen vermochte, würde sie mit Mawen darüber reden, sobald dieser von seinem Spaziergang zurückkehrte.
Während die zwei Frauen es einfach genossen, der Enge ihres Quartieres zu entkommen, hatten die Spaziergänge im Schlossgarten für Mawen einen zusätzlichen Reiz. Täglich nahm er sich einige Pflanzen vor, fertigte Zeichnungen von ihnen an, studierte sie genau und befragte die ihn begleitende Wache zu den Namen und Eigenschaften. Da sie die Pflanzen nicht für Geheimnisse hielten, gaben die sonst schweigsamen Wachposten bereitwillig Auskunft. Vermutlich war es auch für sie eine willkommene Abwechslung zum täglichen Einerlei. Mawen fertigte gerade die Zeichnung eines Daro-Baumes an, als er aus dem Augenwinkel wahrnahm, wie die Wache sich verbeugte und jemanden mit 'Euer Hoheit' ansprach. Sollte etwa der König ihn sprechen wollen? Mawen löste den Blick von seinem Pergament und sah sich einem jungen Mann gegenüber. Schon wollte er den Blick wieder abwenden, als der junge Mann ihn ansprach. „Ihr müsst Mawen aus Cytria sein. Ich bin Prinz Elec.“
Mawen verneigte sich und der Prinz fuhr fort. „Ich bin erst heute in den Palast zurückgekehrt, und als ich von meinem Vater von eurer Ankunft hörte, hat mich das neugierig gemacht. Ich würde mich freuen, wenn wir uns etwas unterhalten könnten. Kommt, gehen wir ein Stück.“
Der Prinz bedeutete der Wache zurückzubleiben und schritt gemeinsam mit Mawen die Kieswege entlang. Er bat den Gelehrten, ihm alles über den Grund ihrer Reise zu erzählen. Immer wieder unterbrach er Mawen, um Fragen zu stellen. Als die Sonne unterging, war die Neugier des Prinzen noch längst nicht befriedigt und er bat darum, Mawen am nächsten Tag in den Gemächern aufsuchen zu dürfen, um mehr zu erfahren. Mit Freuden willigte Mawen ein, weniger, weil er sich eine Chance erhoffte, ihre derzeitige Situation zu ändern, sondern vielmehr, weil er das Gespräch mit dem Prinzen sehr genossen hatte.
Zada ging unruhig auf und ab. Warum war Mawen noch nicht von seinem Spaziergang zurück? Für gewöhnlich sorgten die Wachen dafür, dass dieser nicht länger als eine Stunde dauerte, doch nur war er schon wesentlich länger fort. Es begann bereits, dunkel zu werden. Als sie das inzwischen vertraute Geräusch des Schlüssels im Schloss vernahm und Mawen den Salon betrat, atmete sie erleichtert auf. Als sie in Mawens Gesicht schaute, machte die Erleichterung Verwunderung Platz. Der Gelehrte wirkte heiter, fast fröhlich.
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