Töchter des Mondes, Band 01: Cate (German Edition)
durchschauen, wie es Tess tut. Sie ist die Aufmerksamste von uns und äußerst geschickt darin, den Leuten ihre Beweggründe und Wünsche in den Pausen zwischen ihren Worten von den Augen abzulesen. Alles, was ich Elena ansehen kann, sind ihre tadellosen Tischmanieren und ihre kriecherische Schmeichelei, was Mrs Corbett angeht.
Die Suppe ist zu salzig, aber sonst in Ordnung, der gekochte Kabeljau ist ganz annehmbar, wenn auch langweilig. Doch als Lily das Hauptgericht hereinträgt, zucke ich innerlich zusammen, als ich die Platte mit grauem, zerkochtem Braten sehe. Ich bringe es nicht übers Herz, mich bei Mrs O’Hare zu beklagen, aber es ist schon sehr demütigend, unseren Gästen Fleisch zu servieren, das zäh wie Schuhleder ist.
Nur, als ich hineinbeiße – ist es das gar nicht. Ich nehme ein bisschen von der dünnen, wässrigen Zwiebelsoße: Sie ist perfekt gewürzt. Nachdem ich von den Stampfkartoffeln probiert habe, die mir wie geschmolzene Butter im Mund zergehen, traue ich mich nicht, noch irgendetwas anderes anzurühren. Die laschen grünen Bohnen, der schon legendäre entsetzliche Schmorkürbis – ich bin mir sicher, dass es alles vorzüglich schmeckt.
Entsetzt starre ich auf Großmutters blassblaues Porzellan. Tess hatte es mir doch versprochen! Vaters Essen zu verbessern, um ihm eine Freude zu machen, ist eine Sache – immer noch gefährlich, aber es ist unwahrscheinlich, dass er etwas merken würde. Aber das vor unseren Gästen zu riskieren –
Ich sehe sie eindringlich an, aber sie schüttelt nur den Kopf und macht selbst große Augen. Wir wenden uns beide Maura zu. Sie hört zu, was auch immer Mrs Corbett und Elena erzählen, und sieht uns absichtlich nicht an.
Ich konzentriere mich auf mein Essen und gehe gegen den Zauber an, bis er nachgibt. Der nächste Bissen erfordert sehr viel mehr Kauen, also lasse ich den Zauber wieder über mich schwappen.
Keine, die noch recht bei Verstand ist, würde freiwillig diese Speisen essen.
IchsehemichwiederamTischum.VaterschaufeltseineKartoffelnin sich hinein,MrsCorbetttupftsichmitderServiettediefettigenLippenab.SogarElenanimmtzierlicheHäppchenvomKürbis.EswareingewagtesSpiel, aber anscheinend ist nichts weiter passiert. Dieses Mal.
Sobald wir Tess’ Früchtekompott und Apfeltorte gegessen haben, entschuldige ich mich, indem ich vorgebe, Kopfschmerzen zu haben. Maura, die ganz genau weiß, dass ich eine sehr stabile Gesundheit habe, bietet an, mir Gesellschaft zu leisten. Doch ich lehne ab. Ich muss Mutters Tagebuch lesen. Das Herz schlägt mir hoffnungsvoll in der Brust. Wer auch immer meine geheimnisvolle Briefeschreiberin ist, sie hätte mir nicht geraten, nach dem Tagebuch zu suchen, wenn es nicht etwas enthalten würde, das mir weiterhelfen wird. Es gab Zeiten, in denen ich Mutter grollte, weil sie mich mit so viel Verantwortung und so wenig Ratschlägen zurückgelassen hat. Aber sie muss schon immer gewollt haben, dass ich das Tagebuch finde. Ich ärgere mich, dass ich nicht schon eher danach gesucht habe. Vielleicht hätte ich mir eine Menge Sorgen ersparen können.
Mrs O’Hare hat den Kamin in meinem Zimmer angezündet, um die Kälte zu vertreiben. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und nehme die Steppdecke vom Fußende des Bettes. Mutter hat sie extra für mich genäht und sie mit der blauen Taglilie bestickt, die meine Lieblingsblume gewesen ist, als ich noch klein war.
Mit Mutters Tagebuch werfe ich mich auf das ausgeblichene violette Sofa. Ich habe mir ein paar Dinge aus ihrem Wohnzimmer geholt, nachdem sie gestorben war : dieses Sofa, den Teppich mit dem Rosenmuster, der vor meinem Bett liegt, und ihr kleines, mit Wasserfarben gemaltes Bild vom Garten. Wenn ich mein Gesicht in der Sofalehne vergrabe, habe ich manchmal das Gefühl, immer noch einen Hauch von dem Rosenwasser riechen zu können, das sie immer benutzt hat.
Der Septemberwind pfeift ums Haus, rüttelt an den Fensterscheiben und lässt die Kerzenflammen tanzen, die gespenstische Schatten an die Wände wirft. Wenn ich an Geister glaubte, wäre dies ein perfekter Abend für eine Erscheinung.
Falls Mutters Geist mir Antworten geben könnte, würde ich ihn mit Freuden empfangen.
Du musst für mich auf deine Schwestern aufpassen. Beschütze sie für mich. Es gibt so vieles, was ich dir noch sagen wollte. Doch jetzt habe ich keine Zeit mehr, so klagte Mutter, als ich das letzte Mal bei ihr war. Sie glich einem Gespenst und kämpfte um jeden Atemzug. Ihre saphirblauen Augen, die
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