Töchter des Mondes, Band 01: Cate (German Edition)
einem befriedigenden Krachen gegen die Wand.
Ich habe mir bisher nur selten ärgerliche Gefühle gegenüber Mutter erlaubt. Sie ist tot; sie kann sich nicht mehr verteidigen. Aber jetzt zittere ich vor Wut. Wie konnte sie nur? Wie konnte sie einfach sterben und mich mit all diesen Dingen hier allein lassen?
Meine magischen Kräfte werden stärker, befeuert durch meinen Zorn. Ich habe seit Jahren nicht mehr die Kontrolle über meine Kräfte verloren, nicht mehr seit dem Vorfall mit Mrs Corbett und dem Schaf, doch jetzt bin ich versucht, mich gehen zu lassen.
Ich könnte alles in diesem Zimmer kaputt schlagen aus reiner Zerstörungswut.
Aber ich tue es nicht.
Ich müsste es nur wieder in Ordnung bringen, bevor Vater oder Mrs O’Hare es bemerken würden.
Ich schließe die Augen und nehme tiefe Atemzüge, so wie Mutter es mir beigebracht hat.
Als ich glaube, meine Ruhe wiedergefunden zu haben, hebe ich das Tagebuch auf. Ich setze mich wieder hin und lese noch einmal die letzte Seite. Es ist verrückt. Vielleicht war Mutter im Fieberwahn, als sie es geschrieben hat. Und auch wenn es stimmt – auch wenn es so eine Prophezeiung gegeben haben sollte –, muss es auch noch andere Hexenschwestern geben. Und auch andere Mädchen außer mir beherrschen Gedankenmagie. Ich bin nicht dermaßen mächtig.
Eine unangenehme Stimme nagt an mir. Woher willst du das wissen? Du weißt doch gar nicht, was für Kräfte andere Hexen haben, merkt die Stimme an. Du kennst doch überhaupt keine anderen Hexen . Ich habe schon immer gewusst, dass es mehr Hexen geben muss außer Mutter, meinen Schwestern und mir, aber ich bin nie welchen begegnet. Zumindest habe ich noch nie eine Hexe getroffen, die zugegeben hätte, eine zu sein. Ich bin mit Brenna Elliott und Marguerite und Gwen und Betsy zur Sonntagsschule gegangen. Aber ich habe nie irgendwelche Anzeichen von Magie bei ihnen erkennen können, und die meisten Behauptungen der Brüder scheinen höchst zweifelhaft zu sein …
Vor Angst bekomme ich Gänsehaut. Was, wenn es wirklich wahr ist? Was, wenn ich es tatsächlich bin ?
Wenn es mein Schicksal ist, die Hexen wieder an die Macht zu führen – wenn die Brüder das herausfinden sollten, würden sie mich umbringen. Auf der Stelle und ohne Prozess. Sie würden glauben, dass sie es für das Wohl von Neuengland tun. Vielleicht würden sie ein Exempel an uns allen dreien statuieren – uns auf dem Scheiterhaufen verbrennen oder uns auf dem Marktplatz erhängen, so, wie sie es damals zu Urgroßmutters Zeiten gemacht haben. Sie haben damit aufgehört, weil die Leute es irgendwann zu brutal fanden. Aber die Brüder würden diese Methoden jederzeit wieder einführen, um ihre Stärke zu demonstrieren, um Hexen und auch ganz gewöhnliche Mädchen zu verängstigen und gefügig zu machen. Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie dazu fähig sind.
Wie soll ich mit dieser Bedrohung leben?
Ich kauere mich zusammen und wünschte, jemand anders könnte mir diese Last abnehmen.
Mutter muss noch mehr geschrieben haben. Sie kann mich nicht einfach so zurückgelassen haben, ohne mir zu sagen, was ich tun soll! Ich spüre die Magie, wie sie sich in meiner Brust windet und darauf wartet, losgelassen zu werden. »Acclaro« , flüstere ich. Verzweifelt blättere ich die letzten Seiten des Tagebuchs um, in der Hoffnung, dass auf den leeren Seiten am Ende noch mehr Wörter erscheinen.
Doch nichts passiert. Ich sage es noch einmal, lauter, und versuche, die in mir aufsteigende Panik zu unterdrücken. Ich überprüfe jede einzelne Seite und warte darauf, dass mir eine Nachricht ins Auge springt. Aber da ist nichts weiter, weder auf den leeren Vorsatzseiten am Anfang noch am Ende – keine geheimen Wörter, die über die anderen geschrieben wären, da ist nichts eingekreist oder unterstrichen, um eine Geheimbotschaft zu offenbaren. Überhaupt nichts.
Ich suche nach einer Spur ihrer Magie, aber ich spüre nichts. Hatten ihre Kräfte nachgelassen, ehe sie noch mehr schreiben konnte?
Ich versuche es wieder und wieder. Ich probiere verschiedene Zaubersprüche; ich versuche es so lange, bis ich vollkommen erschöpft bin und meine Kräfte sich schwach und weit entfernt anfühlen. Die Wörter verschwimmen, als mir Tränen in die Augen steigen. Gereizt wische ich mir übers Gesicht. Ich werfe das Tagebuch aufs Bett, lasse die Steppdecke auf den Boden fallen und trete ans Fenster.
Der runde Mond lugt durch die mit Taglilien gemusterten Vorhänge ins Zimmer. Ich
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