Töchter des Mondes, Band 01: Cate (German Edition)
überall. Sind diese Frauen in größere Städte geflohen, wo es vielleicht leichter ist, unbemerkt in der Menge unterzutauchen? Oder ist ihnen etwas Schlimmeres geschehen?
Mutter hat in ihrem Tagebuch erwähnt, dass die Verurteilungen kein erkennbares Muster haben, und soweit ich es einschätzen kann, ist das auch immer noch der Fall. Frauen, die Brot klauen oder einen Liebhaber haben, werden zu harter Knochenarbeit auf See verurteilt, wohingegen manche der Hexerei angeklagte Frauen für unschuldig erklärt und sofort wieder freigelassen werden.
Wie kann das möglich sein, wenn die Brüder solche Angst vor Magie haben? Es sei denn – es sei denn, sie sind gar nicht so blind, wie ich dachte, und sie wissen, wie selten wirkliche Hexerei ist. Das wäre eigentlich noch schlimmer. Denn es würde bedeuten, dass die Zunahme an Verhaftungen überhaupt nichts mit irgendwelchem Fehlverhalten zu tun hat; dass es nur dazu gedacht ist, uns einzuschüchtern.
Ich wende mich wieder dem Verzeichnis zu. Unter den Angeklagten finden sich Mädchen von zwölf Jahren, wie Tess, genauso wie Hausfrauen von vierzig Jahren, wie Mrs Clay, einer der berüchtigtsten Fälle der letzten zehn Jahre. Mrs Clay hatte zugegeben, mit einem anderen als ihrem Ehemann das Bett geteilt zu haben. Die Klatschbasen der Stadt haben niemals seine Identität preisgegeben, aber hier ist sie in Marianne Belastras ordentlicher Handschrift niedergeschrieben: Mrs Clay verlangte, wenn sie für schuldig befunden würde, dann wäre auch Bruder Ishida schuldig, denn er war derjenige, mit dem sie das Verbrechen des Ehebruchs begangen hat.
Bruder Ishida? Ich muss an seine kalten Augen und dünnen Lippen denken, und ich bekomme eine Gänsehaut. Immer sind es die Frauen, die bestraft werden.
Ich schlucke meinen Abscheu hinunter. Da ist noch etwas, das ich sehen muss. Ich blättere zu letztem Oktober und schaue die Namen durch. Brenna Elliott, 16 Jahre. Verbrechen: Hexerei. Ankläger: ihr Vater. Strafe: Harwood. Entlassen Sommer 1896 auf Bestehen ihres Großvaters. Offensichtliche Selbstmordversuche.
Zehn Monate an diesem Ort, und Brenna wollte lieber sterben. Meine Patentante ist schon seit fast zehn Jahren dort.
Ich gehe zurück in den vorderen Ladenbereich, wo Finn mit aufgestütztem Kinn und über die Seiten huschendem Blick ein Buch liest.
»Vielen Dank, Mr Belastra. Das war sehr hilfreich.«
»Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?«, fragt Finn und schaut mir in die Augen.
Das habe ich, aber ich habe immer noch nichts Neues über die Prophezeiung erfahren – oder darüber, was ich bei meiner Absichtsbekundung sagen soll. »Ja. Sie scheint äußerst skandalös gewesen zu sein. Wurde nach Harwood geschickt.«
»Tut mir leid, das zu hören.« Finn steht hinter dem Ladentisch. »Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«
»Nein. Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie vergessen könnten, dass ich hier war.« Ich setze meine Kapuze wieder auf und gehe zur Tür. Hinter dem großen Schaufenster liegt Chatham in der Nachmittagssonne ruhig und schläfrig da. Manchmal reicht dieser Anblick aus, alles andere zu vergessen.
»Warten Sie! Miss Cahill, Sie sind nicht angeklagt worden, oder? Oder eine Ihrer Schwestern?«
Ich drehe mich um. Finns Schultern verkrampfen sich unter seiner Jacke, sein Kiefer ist starr. »Nein! Natürlich nicht. Wie kommen Sie darauf?«
Er zieht die Stirn in Falten. »Sie haben nach dem Register gefragt.«
»Ich sagte doch, dass ich etwas über meine Patentante erfahren wollte! Und außerdem, wenn wir angeklagt wären, würde ich wohl kaum hier sitzen und in einem Buch lesen. Wozu sollte das gut sein?«
»Was würden Sie denn tun? Wenn Sie angeklagt würden?« Finns Blick ist angespannt. Neugierig.
Ich nehme einen tiefen Atemzug. Das hat mich noch nie jemand gefragt, aber es ist eine Frage, die mich ständig verfolgt. Wenn jemand uns dabei ertappen würde, wie wir unsere magischen Kräfte benutzen, würde ich gezwungen sein, seine Erinnerung daran auszulöschen. Ich würde es nicht gern tun. Aber ich würde es tun.
Aber das kann ich Finn Belastra natürlich nicht sagen.
»Ich weiß nicht«, sage ich. Was auch stimmt. Denn wenn wir von dem Informanten nichts wüssten, bevor es zu spät ist – wenn die Brüder mit ihren Wachen zu unserem Haus kämen und ihre Anschuldigung vorbrächten, wie sie es bei Gabrielle getan haben – , ich weiß nicht, was ich dann tun würde. Ich glaube nicht, dass meine magischen Kräfte stark
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