Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
solange es sich nicht anders herausstellt, sollten wir weiterhin davon ausgehen, dass Sie es sind. Und wenn Sie tatsächlich die Verkündete sind … nun, dann könnten Sie schon früher als Anführerin berufen werden, als Sie denken.«
»Weil Schwester Cora im Sterben liegt.«
»Sie hat es Ihnen gesagt?« Inez sieht für einen Moment aus, als wäre sie aus dem Konzept geraten. »Ja. Es wäre ein Wunder, wenn sie Neujahr noch am Leben ist. Und wenn Cora stirbt, wird es viele geben, die Sie trotz Ihres jungen Alters und Ihrer Unerfahrenheit an der Spitze sehen wollen, einfach weil Sie die Verkündete sind. Sie sollen wissen, dass Sie auf mich zählen können, wenn es so weit ist und wir Cora verlieren. Sie sind noch ein Kind, Miss Cahill. Die Rolle der Anführerin wird schwierige Entscheidungen – herzzerreißende Entscheidungen – mit sich bringen. Ich bin schon seit Jahren Coras Stellvertreterin. Ich kann diese Entscheidungen mit Ihnen treffen – ich kann sie für Sie treffen, wenn Sie möchten.«
Sie erhebt sich und kommt um ihr Pult herum. »Sie werden im März volljährig, aber es besteht keine Eile. Ich kann so lange die Führung übernehmen, wie Sie es wünschen.« Sie legt mir eine kalte, knochige Hand auf die Schulter. »Verstehen Sie, was ich sage?«
»Ja, Ma’am.« Sie gibt mir noch eine Schonfrist, und zwar eine recht verlockende. »Danke.«
»Gut. Dann sehe ich Sie morgen im Unterricht.«
Damit wäre ich wohl entlassen. Doch als ich aufstehe, beschleicht mich das unheimliche Gefühl, dass ich gerade einer Prüfung unterzogen wurde, nur kann ich nicht sagen, ob ich sie bestanden habe oder ob ich durchgefallen bin.
Zwei Stockwerke weiter unten schlägt die Standuhr Mitternacht. Rilla liegt mit angezogenen Beinen unter ihrer gelben Steppdecke und gibt ein beruhigendes Schnarchen von sich. Ich schleiche auf Zehenspitzen durchs Zimmer, halte kurz die Luft an und öffne die Tür.
Bei jedem Quietschen der Treppenstufen zucke ich zusammen. Unten in der Küche angekommen, wickle ich mir den Umhang um die Schultern und ziehe mir die Kapuze über die langen blonden Zöpfe. Der Novemberwind pfeift unheimlich durch den Schornstein.
Doch die Kälte innerhalb der Klostermauern ist nichts, verglichen mit der draußen. Sobald ich in den Garten betrete, beißt mir die Kälte in Nase, Wangen und Fingerspitzen. Das Wasser in der marmornen Vogeltränke ist gefroren. Ich eile an den beschlagenen Fenstern von Schwester Evelyns Gewächshaus vorbei und sehne mich nach der dampfenden Wärme darin.
Der Wind schneidet durch meinen Umhang, weht mir die Kapuze vom Kopf und peitscht mir die Haare ins Gesicht. Auf dem Pfad aus Schieferplatten zeichnen sich die Schatten ab, die der Halbmond wirft. Nur ein einziges der Mädchen mit einem Zimmer zum Garten müsste jetzt die Nase an das eisige Fensterglas drücken, und ich wäre entdeckt.
Der Garten erstreckt sich über die gesamte Länge der Straße. Am hinteren Ende befindet sich eine schmiedeeiserne Pforte, die auf den Rasen hinter dem Kloster hinausführt. Ich greife nach dem kalten Eisen und ziehe die Tür auf. Da kommt eine große Gestalt um die Gartenmauer gebogen.
Für einen Moment grinse ich einfach nur blöd. Dann laufe ich auf ihn zu, gedankenlos, von Sehnsucht erfüllt.
»Warum?« Sein Gesicht ist von der schwarzen Kapuze verdeckt, doch die Stimme würde ich überall wiedererkennen – nur habe ich sie noch nie so zornig erlebt.
Abrupt bleibe ich stehen, als würde uns eine Glasscheibe trennen.
Es war das Letzte, was Finn an jenem Tag in der Kirche zu mir gesagt hat. Und es ist das Erste, was er mich jetzt fragt.
Wir sind uns so nah. Nur Zentimeter voneinander entfernt. Ich könnte die Hand nach ihm ausstrecken und …
»Wir hatten einen Plan. Ich habe meinen Teil erfüllt. Ich habe darauf gezählt, dass du auch deinen Teil erfüllen würdest. Ich habe darauf gezählt, dass du unsere Verlobung bekannt geben würdest. Was ist passiert, Cate? Bist du …« Die Kapuze weht ihm vom Kopf, und sein kupferfarbenes Haar, das noch unordentlicher ist als sonst, kommt zum Vorschein. Seine Wangen sind rot, genau wie die Ohren. Er nimmt einen tiefen Atemzug und ringt um Fassung. »Haben sich deine Gefühle mir gegenüber geändert?«
»Nein!« Schockiert sehe ich ihn an. Hält er mich wirklich für so launenhaft, für so treulos?
»Dann erklär mir, warum du es getan hast.« Seine Schultern unter dem schwarzen Umhang sind versteift, und so wie er mich ansieht …
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