Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
den Zöpfen sieht sie sehr süß und mädchenhaft aus. Ich habe das Bedürfnis, mich um sie zu kümmern, sie zu bemuttern, doch ich habe ihr versprochen, sie nicht länger wie ein Kind zu behandeln.
»Sie sind eben alle ziemlich neugierig wegen der Prophezeiung. Du wirst dich dran gewöhnen.«
Sie nickt. »Sie scheinen ja alle sehr nett zu sein. Zumindest fast alle.«
Ich fühle, wie Wut in mir aufsteigt, und die Hand mit dem Scone, von dem ich gerade abbeißen wollte, bleibt mitten in der Luft hängen. »War eine unfreundlich zu dir? Wer?«
»Cate, du siehst aus, als wolltest du jemandem mit dem Scone den Schädel einschlagen.« Tess kichert. Ich erröte und lege das Gebäck zurück auf den Teller. »Niemand war gemein zu mir, aber Alice und Vi sind nicht besonders nett zu dir .«
Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. »Mach dir deswegen keine Sorgen. Ich will, dass du hier Freundinnen findest.«
Tess runzelt die Stirn. »Ich könnte mich mit keinem Mädchen anfreunden, das dich nicht mag, du Dummerchen.«
Ganz gerührt nehme ich sie in den Arm. Maura denkt darüber offensichtlich anders. Sowohl gestern beim Abendessen als auch heute beim Frühstück saß sie mit Alice und Vi an einem Tisch.
Auf einmal lächelt Tess. »Weißt du was? Schwester Gretchen hat angeboten, mir Deutsch beizubringen.«
Ich erwidere ihr Lächeln. »Mei spricht mit ihrer Familie Chinesisch. Sie würde es dir garantiert auch beibringen.«
»Chinesisch?« Tess freut sich wie verrückt. »Wirklich?«
»Ja. Möchtest du sie fragen? Sie spielt bestimmt noch mit Addie Schach.« Ich puste die Lampen aus, und Tess nimmt den Teller und ihre immer noch volle Teetasse. Auf dem Flur bleibt sie auf einmal stehen.
»Wie schön«, sagt sie und zeigt auf die silberne Briefablage auf dem Tisch. Darauf steht ein ausgefallener Briefständer in Form einer Leier. Als sie danach greift, verschüttet sie ihren Tee über den ganzen Tisch. »Ups!«
Ich nehme den triefend nassen Brief an Schwester Cora vom Tisch und wedle damit in der Luft. »Hol ein Küchentuch.«
»Ist der Brief noch zu retten?«, fragt Tess. »Nimm ihn besser aus dem Umschlag, damit er nicht durchweicht.«
Ich runzle die Stirn. »Ich kann doch nicht Schwester Coras Post aufmachen.« Der Brief hat keinen Absender; er muss persönlich abgegeben worden sein. Was ist, wenn es etwas Wichtiges ist, und wir haben es gerade unlesbar gemacht? Tess eilt davon, und ich fahre mit dem Fingernagel unter das rote Wachssiegel. Es trägt den Buchstaben B.
Ich muss den Brief ja nicht lesen, überlege ich. Ich nehme ihn einfach nur aus dem Umschlag, um ihn in Sicherheit zu bringen.
Wie sich herausstellt, hätte ich mir gar keine Gedanken machen brauchen. Der Brief ist am unteren Ende ein bisschen braun vom Tee, aber die sechs Zeilen sind immer noch lesbar – bis darauf, dass die Buchstaben so angeordnet sind, dass sie nicht den geringsten Sinn ergeben.
Tess kommt mit einem Küchentuch herbeigeeilt. »Ist der Brief nass geworden?«, fragt sie und beißt sich auf die Lippe. »War es etwas Wichtiges?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, es ist eine verschlüsselte Nachricht.« Ich halte ihr den Brief hin.
»Wirklich?« Sie reißt ihn mir aus der Hand und legt die Stirn in Falten. Genau wie Vater, wenn er über einer Übersetzung brütet. »Das ist die Caesar-Verschiebung«, sagt sie, nachdem sie eine Minute konzentriert darauf gestarrt hat.
»Muss ich wissen, was das bedeutet?«
»Das ist ein symmetrisches Verschlüsselungsverfahren, bei dem jeder Buchstabe durch einen anderen ersetzt wird. Es heißt, Caesar hat drei Verschiebungen nach rechts benutzt – also A durch D ersetzt, B durch E, C durch F und so weiter. Das hier sieht allerdings so aus, als wäre es eine Verschiebung um zwei nach links, also …« Tess überlegt. »A wird zu Y, B zu Z, C zu A und so weiter. Das ist gut. Nicht so einfach zu knacken.«
Ihre Schlauheit verblüfft mich immer wieder aufs Neue. »Aber du hast es gerade in weniger als einer Minute gelöst.«
Sie errötet. »Vater hat ein Buch über Geheimschriften. Nachdem ich das gelesen hatte, habe ich Mrs O’Hare ungefähr einen Monat lang verschlüsselte Nachrichten geschrieben. Sie war aber nicht besonders gut darin, sie zu lesen; ich musste ihr immer den Schlüssel dazu geben. Aber egal, kein normaler Mensch könnte den Code einfach so entziffern. Oder ihn überhaupt entziffern.«
Ich muss lachen. Nur Tess ist dazu in der Lage. »Soll das heißen, du kannst das
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