Töchter des Windes: Roman (German Edition)
Menschen irgendeinen Nerv zu treffen schien.
Brianna hatte recht gehabt. Er verspürte nicht den Wunsch, ein zweiter Yeats zu sein. Ein guter Schriftsteller zu sein bedeutete, auf eine Weise davon leben zu können, die seinen Vorstellungen entsprach. Als großer Schriftsteller hingegen hätte er Verantwortung, und es würden Erwartungen in ihn gesetzt, was nicht unbedingt seinen Wünschen entsprach. Und was Gray nicht wünschte, ignorierte er geflissentlich.
Aber es gab Momente wie diesen, in denen er sich fragte, wie es wäre, Wurzeln zu haben, Vorfahren, eine innige Verbundenheit mit einer Familie oder einem Land. Die Menschen, die diese Burg gebaut hatten, die heute noch stand, diejenigen, die hier gekämpft hatten und gestorben waren – was hatten sie gefühlt? Welche Wünsche hatten sie gehegt? Und weshalb hing die Erinnerung an Kämpfe, die vor so langer Zeit ausgefochten waren, noch heute, klar wie die tödliche Melodie gekreuzter Klingen, in der Luft?
Er hatte Irland wegen seiner Geschichte aufgesucht, wegen seines besonderen Menschenschlags, dessen Erinnerungen weit in die Vergangenheit reichten und der tief in diesem Land verwurzelt war. Eines Menschenschlags, dessen typische und – wie er sich eingestand – überaus anziehende Vertreterin Brianna Concannon war.
Es war ein eigenartiger und interessanter Glückstreffer, daß sie der Heldin seiner zukünftigen Geschichte so ähnelte.
Rein äußerlich war sie perfekt. Sie war von einer weichen, strahlenden Schönheit, von schlichter Eleganz und ruhiger Höflichkeit. Aber unter der Hülle verbarg sie eine Distanziertheit und eine Traurigkeit, die er als krassen Gegensatz zu ihrer offenen Gastfreundschaft empfand. Sie war eine vielschichtige Frau, dachte er und hielt sein Gesicht dem Regen hin. Und nichts gefiel ihm besser an einem Menschen als eben diese unergründliche Vielschichtigkeit. Weshalb hatte sie einen so traurigen Blick, weshalb nur war sie von so kühler Höflichkeit?
Dieses Rätsel zu lösen würde sicher interessant.
3. Kapitel
A ls er zurückkam, dachte er, sie wäre nicht da. Wie ein auf einen bestimmten Geruch abgerichteter Hund wandte sich Gray automatisch sofort der Küche zu, doch der Klang ihrer Stimme – sanft, ruhig und eisig zugleich – hielt ihn davon ab weiterzugehen. Ohne auch nur einen einzigen Gedanken darauf zu verwenden, daß es unhöflich war, wenn man an fremden Türen lauschte, wandte er sich nach links und trat verstohlen an die halb geöffnete Wohnzimmertür.
Er sah sie am Telefon stehen. Das Zerren ihrer Hand an der Schnur war eine Geste, die Zorn oder Nervosität verriet. Ihr Gesicht war ihm abgewandt, aber ihr steifer Rücken und die starren Schultern waren deutliche Zeichen dafür, wie angespannt sie war.
»Ich bin gerade erst reingekommen, Mutter. Ich mußte ein paar Sachen aus dem Dorf holen. Ich habe einen Gast.«
Es gab eine Pause, in der Gray beobachtete, wie Brianna sich heftig die Schläfe rieb.
»Ja, ich weiß. Es tut mir leid, daß es dich aufregt. Ich komme morgen vorbei. Ich kann ...«
Sie brach ab, denn offenbar äußerte die Person am anderen Ende der Leitung irgendeinen bösen Kommentar. Am liebsten wäre Gray in den Raum gestürzt und hätte seiner Gastgeberin tröstend die verspannten Schultern massiert.
»Morgen bringe ich dich, wohin du willst. Ich habe nicht gesagt, daß ich zu beschäftigt bin und daß es dir nicht gut geht, tut mir leid. Ich werde morgen mit dir einkaufen fahren, ja, kein Problem. Morgen früh, versprochen. Aber jetzt muß
ich auflegen. Ich habe noch einen Kuchen im Ofen. Wenn du willst, bringe ich dir ein paar Stücke mit. Morgen, Mutter, ich verspreche es.« Sie murmelte einen Abschiedsgruß, legte den Hörer auf die Gabel und drehte sich um. Die Erschöpfung und der Überdruß in ihrem Gesicht verwandelten sich, als sie Gray erblickte, in blankes Entsetzen, und innerhalb von Sekunden wurde sie puterrot. »Sie bewegen sich ziemlich leise«, sagte sie mit einer Spur von Verärgerung im Ton. »Ich habe gar nicht gehört, daß Sie hereingekommen sind.«
»Ich wollte nicht stören.« Er schämte sich nicht im mindesten, weil er ihr Gespräch belauscht hatte oder weil er Zeuge ihrer Verwirrung geworden war. »Lebt Ihre Mutter irgendwo in der Nähe?«
»Nicht weit von hier.« Ihr schneidender Ton verriet den Zorn, der in ihr aufzuwallen begann. Er hatte ein persönliches Gespräch belauscht und hielt es noch nicht einmal für erforderlich, sich für diese
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