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Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
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undurchdringlichen Gesichtsausdruck eines steinernen Buddhas zeigte.
    »Ich will nicht, dass du dir Pornoseiten ansiehst«, sagte Jace zu seinem Bruder.
    Tyler verdrehte die Augen. »Sie waren nicht nackt oder so. Er will sich eine Braut aus dem Katalog bestellen.«
    »Er ist hundertzwölf, was will er denn mit einer Braut aus dem Katalog?«
    »Er ist siebenundneunzig«, verbesserte ihn Tyler. »Wenn man die Geburtstage auf die chinesische Art zählt, wo der Tag der Geburt als erster Geburtstag betrachtet wird. Er ist also erst sechsundneunzig, wenn man danach geht, wie wir feiern, nach dem Jahrestag des Tages der Geburt.«
    Jace hörte sich den Vortrag geduldig an. Er versuchte, nie barsch zu seinem Bruder zu sein. Tyler war blitzgescheit, aber sehr empfindlich, wenn es um Jaces Zustimmung oder Missbilligung ging.
    »Wie auch immer«, sagte Jace. »Er ist eine Antiquität. Was will er mit einer jungen Braut anfangen?«
    »Genau genommen ist er keine Antiquität, weil er noch keine hundert Jahre alt ist. Und wegen der Braut -« Tyler zuckte übertrieben mit den Schultern. »Er sagt: Wenn sie stirbt, dann stirbt sie eben.«
    Er sah den alten Mann an, der neben ihm saß, und rasselte etwas auf Chinesisch herunter. Großvater Chen antwortete ihm, und sie lachten.
    Der alte Mann fuhr Tyler liebevoll durch die Haare, dann schlug er sich mit den Händen auf die Oberschenkel und stemmte sich von dem Futon in die Höhe. Er war genauso groß wie Jace, hielt sich so gerade, als habe er einen Stock verschluckt, und war so dünn, dass sein Körper beinahe etwas Skelettartiges hatte. Sein Gesicht war eingesunken wie bei einem Schrumpfkopf, die Haut war transparent wie nasses Reispapier und ließ ein Geäst von blauen Adern durchschimmern. Er betrachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen Jaces Gesicht. Er deutete auf die blauen Flecken und Abschürfungen und sagte mit ernster Stimme etwas, so leise, dass Tyler es nicht hören konnte. Besorgnis, dachte Jace. Angst. Missbilligung. Großvater Chen hatte – ganz richtig – erkannt, dass das, was Jace auch immer aufgehalten haben mochte, nichts Gutes gewesen war.
    Der alte Mann sagte Tyler gute Nacht und ging.
    Tyler knipste die Tischlampe an und musterte seinen großen Bruder mit ernster Miene. »Was ist mit deinem Gesicht passiert?«
    »Ich hatte einen Unfall.«
    Er ließ sich auf einen hölzernen chinesischen Hocker sinken und zog seine Schuhe aus, vorsichtig darauf bedacht, nicht zu fest an seinem rechten Fuß zu ziehen. In seinem Knöchel pochte es.
    »Was für ein Unfall? Ich will genau wissen, was passiert ist.«
    Dieses Gespräch führten sie nicht zum ersten Mal. Tyler wollte sich vorstellen können, was Jace tat, bis ins letzte Detail. Aber ganz besonders interessierte er sich für jede Art von Unfall, den sein großer Bruder – oder irgendeiner der anderen Kuriere – haben könnte.
    Jace würde es ihm nicht erzählen. Diesen Fehler hatte er einmal gemacht, nur um anschließend festzustellen, dass Tyler vor Sorge um ihn ganz außer sich war, er stellte sich immer wieder vor, was alles Entsetzliches passieren könnte, er hatte Angst, dass Jace eines Tages weggehen und nicht mehr wiederkommen könnte.
    »Ich bin hingefallen. Das ist alles«, sagte Jace und wich Tylers prüfendem Blick aus. »Eine alte Frau hat mich mit der Tür ihres Cadillac erwischt, ich hab mir den Knöchel verstaucht und ein paar Kratzer abbekommen. Eins der Räder ist 'ne Acht und ich musste den Silberpfeil nach Hause schieben.«
    Die Kurzfassung der Geschichte. Das wusste auch Tyler. Seine großen Augen füllten sich mit Tränen. »Ich dachte, du kommst nicht mehr zurück. Nie mehr.«
    Obwohl er bis auf die Haut nass war, ging Jace zu dem Futon und setzte sich neben den Jungen, legte den Kopf schief, damit er seinem Bruder ins Gesicht sehen konnte.
    »Ich werde immer zurückkommen, Kleiner. Allein deinetwegen.«
    Eine Träne löste sich von Tylers Wimpern und rollte über seine Wange. »Das hat Mom auch immer gesagt«, erinnerte er Jace. »Und es hat nicht gestimmt. Manchmal passieren Dinge, gegen die man nichts machen kann. Sie passieren einfach. Das ist Karma.«
    Er schloss die Augen und gab aus dem Gedächtnis wieder, was er in dem Wörterbuch gelesen hatte, das er jeden Abend studierte: »Karma ist das die Form der Wiedergeburten eines Menschen bestimmende Handeln beziehungsweise das durch ein früheres Handeln bedingte gegenwärtige Schicksal.«
    Jace hätte am liebsten gesagt, dass das alles

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