Tödlich ist die Nacht
Schwachsinn war, dass nichts irgendeine Bedeutung hatte und dass es so etwas wie Wiedergeburt nicht gab. Aber er wusste, dass es für Tyler wichtig war, an irgendetwas zu glauben, Logik in einer unlogischen Welt zu entdecken, deshalb machte er den gleichen lahmen Scherz wie immer. »Und während du dir über solche Sachen Gedanken machst und abgelenkt bist, läufst du auf die Straße und wirst von einem Bus überfahren.
Ich sage dir, was mein Leben bestimmt, Kleiner: ich liebe dich und ich bin für dich da, selbst wenn ich dafür auf Händen und Knien über Glasscherben kriechen muss.«
Er zog den Jungen an sich und nahm ihn fest in die Arme. Tyler war inzwischen in dem Alter, in dem er fand, dass ein echter Mann keine Umarmungen brauchte, und dass er sie noch immer brauchte, war ihm peinlich. Trotzdem gab er seinem Bedürfnis nach und presste sein Ohr an Jaces Brust, um auf seinen Herzschlag zu lauschen.
Jace drückte seinen Bruder einen Augenblick lang an sich und dachte darüber nach, wie es sich wohl auf sein Karma auswirken würde, dass er Tyler nicht die ganze Wahrheit erzählte. Heute Nacht war er sich mehr denn je seiner eigenen Sterblichkeit bewusst. Der Tod hatte die Hand nach ihm ausgestreckt und ihn in einen dunklen Wirbel gezogen, in dem er über nichts mehr die Kontrolle hatte außer seinem Willen, lebend wieder herauszukommen. Als Tyler sich jetzt an ihn lehnte, spürte er, wie Lenny Lowells Päckchen unter seinem T-Shirt gegen seinen Bauch gepresst wurde.
Morgen früh würde er ein paar Dinge erklären müssen, aber nicht jetzt. Alles, was er jetzt noch wollte, war heiß duschen und schlafen. Die Welt würde über Nacht nicht schöner werden, aber er hätte wieder mehr Kraft, um sich damit auseinander zu setzen.
Als Tyler im Bett lag und eingeschlafen war, ging Jace in das winzige Badezimmer und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel über dem kleinen Waschbecken unter der kleinen Lampe, die wie ein Leuchtpilz aus der Wand ragte.
Er war ziemlich übel zugerichtet. Er sah blass und erschöpft aus, das Einzige, was seinem Gesicht etwas Farbe verlieh, waren die dunklen Ringe unter seinen Augen, ein Schmutzstreifen auf seiner Wange und die leuchtend roten Abschürfungen an seinem Kinn. Seine Unterlippe war aufgeplatzt und blutverkrustet. Kein Wunder, dass der Cop, dieser Jimmy Chew, ihn für obdachlos gehalten hatte.
Er wusch sich die Hände und zuckte zusammen, als der Seifenschaum in seinen aufgeschürften Fingerspitzen und Handflächen zu brennen begann. Er seifte sein Gesicht ein, was genauso schmerzhaft war, und spülte den Schaum mit eiskaltem Wasser ab, das ihm für einen Augenblick den Atem stocken ließ. Dann richtete er sich auf und zog vorsichtig das nasse Sweatshirt und das enge T-Shirt aus. Seine Schultern taten weh, sein Rücken tat weh, seine Brust tat weh. Es gab kaum einen Teil seines Körpers, der nicht wehtat, pochte, geschwollen war, blutverkrustet oder voller blauer Flecke.
Lenny Lowells Päckchen steckte noch immer im Bund seiner engen Radlerhose. Der gepolsterte Umschlag fühlte sich feucht an, war jedoch unversehrt. Jace zog ihn heraus und starrte ihn an, während er ihn in den Händen hin und her drehte. Er zitterte. Unter normalen Umständen hätte er niemals die Sendung eines Kunden geöffnet, ganz gleich, was es war. Rocco, der Typ, der Speed Couriers betrieb, hätte ihn sofort an die Luft gesetzt. Dieser Gedanke ließ ihn beinahe auflachen. Er hatte weiß Gott schlimmere Probleme als Rocco.
Er setzte sich auf den Klodeckel und zupfte so lange an einer Ecke der Lasche, bis er den Finger darunter schieben und sie aufreißen konnte.
Der Umschlag enthielt keinerlei Mitteilung. Er enthielt kein dickes Bündel Geldscheine. Zwischen zwei Pappdeckeln steckte eine Plastikhülle mit Negativen. Jace zog sie aus der Hülle und hielt einen Streifen gegen das Licht. Zwei Leute, die etwas austauschten oder sich die Hand schüttelten. Das ließ sich nicht genau erkennen.
Jemand war bereit, dafür zu töten.
Erpressung .
Und ich stecke mittendrin .
Ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Er konnte nicht zu den Cops gehen, traute ihnen nicht. Selbst wenn er ihnen die Negative aushändigen würde, wäre der Jäger immer noch hinter ihm her, da er es sich sicher nicht leisten konnte, lange darüber nachzudenken, was Jace wusste und was nicht. Der Jäger wüsste nicht, ob Jace sich die Negative angesehen hatte oder ob er nicht vielleicht Abzüge davon hatte machen lassen oder
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