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Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Hoag
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werden, getrennt zu werden, sich vielleicht nie mehr wiederzusehen. Tyler würde wahrscheinlich adoptiert werden, weil er noch klein war. Einen Teenager unterzubringen war dagegen weitaus schwieriger.
    Madame Chen hatte über all das nachgedacht, während sie an ihrem Tee nippte. Sie hatte so lange geschwiegen, dass Jace sicher war, sie würde sagen, dass sie sich zum Teufel scheren sollten. Doch als sie schließlich sprach, sah sie zuerst Jace in die Augen, dann Tyler, dann wieder Jace und sagte: »Familie ist alles.«
    Der Satz ging Jace immer wieder durch den Kopf, während er in dieser Nacht durch die Gassen von Chinatown humpelte. Selbst in guten Zeiten hatte er das Gefühl, von der übrigen Welt abgekoppelt zu sein, ein Außenseiter und Einzelgänger. Er verließ sich auf niemanden, traute niemandem, erwartete von niemandem etwas. Man hatte ihm beigebracht, kein Vertrauen zu haben, und er hatte gesehen, dass es viele Gründe gab, kein Vertrauen zu haben, also hatte er auch kein Vertrauen.
    Aber er mochte die Chens, und er war ihnen zutiefst dankbar. Er genoss die Gesellschaft der anderen Kuriere, obwohl er sie nicht als Freunde bezeichnet hätte. Dies waren die Menschen, zu denen er eine Beziehung unterhielt, der Kreis von Leuten um ihn und Tyler, mit ihnen verbunden durch lose Bande, die schnell gekappt werden konnten, wenn es nötig war.
    Jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Die Polizei suchte nach ihm, im besten Fall, um ihn zu verhören, im schlimmsten Fall, um ihm den Mord an Lenny Lowell anzuhängen. Er konnte zu niemandem gehen und diese Last mit ihm teilen. Wenn man sich auf einen anderen Menschen verließ, machte man sich abhängig, und damit ging man ein zu großes Risiko ein. Und warum sollte jemand von den Leuten, die er kannte, sich seinetwegen in Gefahr bringen?
    Jace konnte sehen, wie sich der lockere Kreis um ihn aufzulösen begann, sich die Menschen in seinem Leben von ihm entfernten wie Teile eines Meteoriten, der in die Erdatmosphäre eintritt. Er war überrascht, als ihm klar wurde, wie viel ihm diese oberflächlichen Beziehungen bedeuteten. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich nicht mehr so verlassen, so allein gefühlt.
    Familie ist alles.
    Seine einzige richtige Familie war ein zehn Jahre alter Junge, und Jace würde alles tun, um jede Gefahr von ihm fern zu halten.
    Er hatte es geschafft, sich bis nach Chinatown durchzuschlagen, ohne die Aufmerksamkeit von jemandem zu erregen, abgesehen von ein paar Pennern, die in Kartons in den Nebenstraßen campierten, durch die er sich geschlichen hatte. Aber morgen würden die Cops die Runde bei den Kurierdiensten machen, um den Kurier ausfindig zu machen, der eine Sendung in Lennys Büro abgeholt hatte. Dann würde er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Jace ging davon aus, dass sein Beinahemörder die gleiche Runde machen würde, um an einen Namen und eine Adresse zu kommen, um an das Päckchen zu kommen, das noch immer unter seinem T-Shirt gegen seinen Bauch gepresst war.
    Doch egal, wer nach ihm suchte, er würde es nicht leicht haben, ihn zu finden. Die Adresse, die er bei Speed angegeben hatte, gehörte nicht zu der Wohnung, in der Tyler und er lebten. Diese Adresse gab er niemandem. Er bekam sein Geld bar auf die Hand – was bei den weniger renommierten Kurierdiensten in der Branche durchaus üblich war. Barbezahlung bedeutete, dass der Staat nichts von seinem Geld sah, deshalb wusste der Staat überhaupt nicht, dass er existierte, und sein Arbeitgeber brauchte sich nicht um Dinge wie Kranken- und Unfallversicherung zu kümmern.
    Auf den ersten Blick war das eine riskante Sache. Falls er sich während der Arbeit verletzte, hatte er keinen Anspruch auf medizinische Versorgung. Und Verletzungen waren unvermeidlich. Laut Statistik musste der durchschnittliche Radfahrer alle dreieinhalbtausend Kilometer mit einem schweren Unfall rechnen. Jace nahm an, dass er diese dreieinhalbtausend Kilometer in ungefähr zwei Monaten herunterstrampelte. Aber auf diese Weise verdiente er mehr – genau fünfzig Prozent des Preises für jede Lieferung – , und wenn sein Arbeitgeber ihn versichern müsste, dann würde vielleicht ein Mal seine Krankenhausrechnung bezahlt werden, aber er hätte wahrscheinlich keinen Job mehr, wenn er entlassen wurde. Man würde ihn als Risiko betrachten und feuern.
    Es konnte ihn auch niemand über die Strom- oder Wasserrechnungen aufspüren, weil er den Chens das Geld für Strom und Wasser in bar gab, ebenso die

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