Tödlich ist die Nacht
Fischmarkt kümmerte, mochte Jace nicht und missbilligte die Entscheidung seiner Tante, die Damon-Brüder bei sich aufzunehmen. Er hatte seine Meinung in den vergangenen sechs Jahren nicht geändert.
Jace kümmerte sich nicht um Chi. Er machte seine Arbeit und gab Chi keinen Grund, sich zu beschweren, abgesehen davon, dass Jace kein Chinese war und nicht Chinesisch sprach. Chi fand das einfach inakzeptabel, ungeachtet dessen, dass er in Pasadena auf die Welt gekommen war und Englisch so gut wie jeder andere sprach.
Madame Chen hatte Chi in ziemlich barschem Ton darauf aufmerksam gemacht, dass Sprachkenntnisse keine notwendige Voraussetzung waren, um zerkleinertes Eis von einer Stelle an die andere zu schaufeln. Der siebenundzwanzigjährige, geistig zurückgebliebene Boo Zhu sprach praktisch gar nicht, erledigte seine Arbeit aber ohne Probleme.
Aus den Regengüssen war ein dichter, kalter Nieselregen geworden. Trotzdem schwitzte Jace wie ein Ackergaul, ihm war übel und er fühlte sich schwach, und mit jeder Schaufel Eis durchfuhr seinen Knöchel ein stechender Schmerz. Eine Viertelstunde nachdem er zu arbeiten angefangen hatte, erschien Madame Chen auf der Laderampe, eine winzige, in einen Trenchcoat gehüllte Gestalt mit einem riesigen Regenschirm mit Karomuster in der Hand. Sie rief Jace zu, er solle in ihr Büro kommen, was ihm einen bösen Blick von Chi einbrachte.
»Mein Schwiegervater hat mir erzählt, dass du verletzt bist«, sagte sie und klappte den Regenschirm zu, als sie vor ihm den mit allen möglichen Dingen voll gestellten Raum betrat.
»Es geht mir gut, Madame Chen.«
Sie musterte mit gerunzelter Stirn sein Gesicht – schweißüberströmt, blass, zerkratzt, aufgeschürft. »Gut? Es geht dir nicht gut.«
»Es war nur ein Unfall. Diese Kurierfahrten sind manchmal nicht ohne. Das wissen Sie doch.«
»Ich weiß, dass du niemals so spät in der Nacht von der Arbeit nach Hause kommst. Steckst du in irgendwelchen Schwierigkeiten?«
»Schwierigkeiten? Warum fragen Sie mich das? Ich habe mich doch auch früher schon verletzt. Das ist nichts Neues.«
»Ich mag Antworten nicht, die keine Antworten sind, JayCee.«
Die Arme auf dem Rücken verschränkt, wich Jace ihrem Blick aus und starrte auf den Wandkalender einer Bank aus der Nachbarschaft, die jedem ein gutes chinesisches neues Jahr wünschte. Madame Chen schaltete den kleinen Heizlüfter neben ihrem Schreibtisch ein, und das Ding begann zu brummen und verbreitete einen unangenehmen Geruch von heißem Metall. Jace dachte einen Augenblick darüber nach, was er ihr erzählen sollte. Wahrscheinlich verdiente sie es, die Wahrheit zu erfahren, schon allein aus Respekt, aber er wollte die Chens nicht mit in diese Sache hineinziehen. Er verstand das alles ja selbst noch nicht ganz. Niemand konnte ihn hier finden, es schien also keinen Grund zu geben, sie zu beunruhigen.
»Die Wahrheit erzählt sich rasch«, sagte sie mit Nachdruck. »Nur über eine Lüge muss man so lange nachdenken.«
Jace seufzte. »Als ich gestern Abend eine Sendung ausliefern wollte, hätte mich fast jemand überfahren. Ich habe einen bösen Sturz gebaut.«
»Und du warst bei der Polizei, um Anzeige zu erstatten, und deshalb bist du so spät nach Hause gekommen«, sagte sie, und ihr war deutlich anzusehen, dass sie das selbst nicht glaubte.
»Nein. Es war dunkel. Es ging alles so schnell. Ich konnte das Nummernschild nicht sehen.«
»Dann warst du also in der Notaufnahme, um dich von einem Arzt untersuchen zu lassen.«
Jace blickte erneut weg, eher aus Ärger als aus Verlegenheit. Madame Chen war der einzige Mensch außer seiner Mutter, den er nicht belügen konnte. Jeden anderen brachte er mit Tricks und Schwindeleien dazu zu glauben, was er glauben sollte. Weil niemand sonst sehr viel darauf gab, was er ihm erzählte. Er war nur ein Kurier, und sie hörten das, was sie hören wollten, was am leichtesten zu akzeptieren war.
»Ich bin nach Hause gelaufen«, sagte er. »Es hat ziemlich lange gedauert, weil es so weit war und mein Fahrrad kaputt ist.«
Madame Chen sagte etwas auf Chinesisch, das vermutlich nicht sehr damenhaft war.
»Du hast kein Taxi gerufen?«
»Taxis kosten Geld.«
»Du hast mich nicht angerufen?«, fragte sie beleidigt.
»Ich habe es versucht. Es war besetzt.«
»Du hast keinen Respekt«, sagte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Seit sechs Jahren sorge ich mich um dich. Und du hast keinen Respekt vor mir.«
»Das ist nicht wahr«, widersprach
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