Tödlich ist die Nacht
Gebühr für den Kabelanschluss in der Wohnung. Die Miete arbeitete er ab, indem er auf dem Fischmarkt Eis in Kühlboxen schaufelte. Er brachte nie Besuch mit nach Hause, er stand niemandem so nahe, dass er Grund dazu gehabt hätte. Er traf sich selten mal mit einem Mädchen, er hatte keine Zeit für eine Beziehung. Die paar Mädchen, mit denen er ausgegangen war, wussten kaum etwas über ihn oder darüber, wo er wohnte. Wie man es ihm von klein auf beigebracht hatte, hinterließ er keine Spuren, die irgendjemanden zu ihm und Tyler führen könnten.
Doch obwohl Jace wusste, wie schwierig es sein würde, ihn zu finden, hatte er Angst davor, nach Hause zu gehen. Er war zwar weder den Cops in die Arme gelaufen, noch hatte der Wagen des Jägers seinen Weg gekreuzt, trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass jemand ihn beobachtete, ihm folgte. Etwas allwissendes Böses hing über der Stadt, direkt unter den Gewitterwolken. Vielleicht war es aber auch nur die Unterkühlung, die ihn am ganzen Körper zittern ließ, als er den Fischmarkt durch die Hintertür betrat und die Treppe zu der winzigen Wohnung hinaufstieg.
Als er sich der Tür näherte, hörte er Stimmen. Männliche Stimmen. Laute Stimmen. Jace hielt den Atem an, presste das Ohr an die Tür und versuchte, über das Dröhnen seines Herzschlags hinweg etwas von dem Gesagten zu verstehen. Die Stimmen verstummten. Sein Herz klopfte noch schneller. Dann erklärte eine lärmende Stimme, dass man sein Auto am besten bei Cerritos Auto Square kaufte.
» Wir sparen mehr, also sparen Sie mehr! Cerritos Auto Square.«
Jace stieß die Luft aus und betrat die Wohnung.
Das einzige Licht kam von dem Fernseher in der Ecke des Zimmers, der den kleinen Raum und die beiden Gestalten auf dem Futon in zuckende Farben tauchte: Tyler, lang ausgestreckt, den Kopf und einen Arm über den Rand des Bettes hängend, und der alte Mann, den Tyler Großvater Chen nannte, der uralte Vater von Madame Chens verstorbenem Ehemann. Großvater Chen saß aufrecht auf dem Futon, der Kopf nach hinten gesunken, der Mund offen, die Arme mit nach oben gerichteten Handflächen vom Körper weggestreckt, wie das Gemälde eines gemarterten Heiligen, der Gott um Gnade anfleht.
Jace ging zu seinem Bruder, schob den Körper des Jungen zurück auf das Bett und breitete die Decke über ihn, die auf den Boden gerutscht war. Tyler bewegte sich nicht, die Augen blieben geschlossen. Großvater Chen stieß einen leisen Schrei aus und fuhr hoch, die Arme zum Schutz vor das Gesicht haltend.
»Alles in Ordnung. Ich bin's nur«, flüsterte Jace.
Der alte Mann ließ die Arme sinken, sah Jace wütend an und überschüttete ihn mit einem Wortschwall auf Chinesisch, eine Sprache, die Jace in den sechs Jahren, die er mittlerweile in Chinatown lebte, nicht gelernt hatte. Er konnte guten Morgen und danke sagen, und das war es dann auch schon. Aber er musste Großvater Chen gar nicht verstehen, um zu begreifen, dass es darum ging, wie spät es war und dass sich Tyler seinetwegen Sorgen gemacht hatte. Der alte Mann ratterte weiter wie ein Maschinengewehr, zeigte auf seine Uhr, zeigte auf Tyler, fuchtelte Jace mit erhobenem Zeigefinger vor der Nase herum.
Jace hob entschuldigend die Hände. »Tut mir Leid. Es ist etwas dazwischengekommen und ich habe mich verspätet, ich weiß. Tut mir Leid.«
Großvater Chen holte nicht einmal Luft. Empört hielt er eine Hand mit abgespreiztem Daumen und kleinem Finger ans Gesicht und führte ein Telefongespräch ohne Worte.
»Ich habe versucht anzurufen«, sagte Jace, als ob ihm diese Erklärung etwas nützen würde. In den fünfzig Jahren, die er jetzt in den Vereinigten Staaten lebte, hatte der alte Mann nicht einmal den Versuch unternommen, die Sprache zu lernen, allein bei der Vorstellung rümpfte er die Nase, als sei es unter seiner Würde, wegen Leuten Englisch zu sprechen, die zu dumm waren, Chinesisch zu lernen.
»Es war besetzt.« Jace tat so, als würde er telefonieren und machte das Besetztzeichen nach.
Großvater Chen schnaubte verächtlich und stieß mit den Händen nach Jace, als wollte er ihn aus dem Zimmer schubsen.
Jetzt wachte Tyler auf, rieb sich die Augen und sah Jace an. »Du kommst vielleicht spät.«
»Ich weiß, Kleiner, tut mir Leid. Ich habe versucht, Madame Chen anzurufen. Es war besetzt.«
»Großvater Chen war an seinem Computer und hat sich chinesische Mädchen angesehen.«
Jace blickte missbilligend zu dem alten Mann, der jetzt wieder den kalten,
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