Tödlich ist die Nacht
hervorgeholt, die im Besitz ihrer Mutter gewesen war, so lange Jace denken konnte. Er hatte oft darin herumgekramt, wenn seine Mutter unterwegs gewesen war, aber niemals, wenn sie zu Hause war. Sie hatte sie mit niemandem teilen wollen. Eine Schachtel mit Erinnerungen ohne Geschichten, ohne Erklärungen. Fotos von Leuten, die Jace nie kennen gelernt hatte, aufgenommen an Orten, an denen er nie gewesen war. Geheimnisse, die für immer Geheimnisse bleiben würden.
Jace hatte eine kurze Trauerrede gehalten, dann hatten er und Tyler jeder die Eigenschaften aufgezählt, die sie an ihrer Mutter am meisten gemocht hatten und am meisten vermissen würden. Sie hatten Abschied von ihr genommen und die Kerzen gelöscht. Dann hatte Jace seinen kleinen Bruder im Arm gehalten, und sie hatten geweint, Jace nur ganz leise, weil er jetzt für sie beide verantwortlich war und stark sein musste.
Alicia hatte Jace immer gesagt, er solle sich keine Sorgen machen, falls ihr jemals etwas passieren sollte, sollte er eine Nummer anrufen, die sie ihn auswendig lernen ließ, und nach Alli fragen. Als Jace von einem Münztelefon aus anrief, hörte er allerdings nur die Ansage, dass es unter dieser Nummer keinen Anschluss mehr gab. Und daher gab es auch keine Alli mehr, dafür gab es umso mehr, worüber er sich Sorgen machen musste.
Am nächsten Tag war Jace losgezogen, um sich nach einer anderen Bleibe für sie umzusehen. Aus mehreren Gründen war seine Wahl auf Chinatown gefallen. Erstens, weil er wollte, dass Tyler in einer Umgebung aufwuchs, in der er keine Angst haben musste, dass ein Junkie ihm wegen fünf Cent den Schädel einschlug oder ihn entführte und an einen Pädophilen verkaufte, um sich das Geld für den nächsten Schuss zu beschaffen. Zweitens, weil in diesem Viertel eine bunte Mischung von Leuten lebte und keiner auf die Idee käme, dass sie dort nicht hingehörten. Und drittens, weil er vermutlich keine Angst haben musste, dass sie jemand beim Jugendamt verpfiff, sofern es ihnen gelang, sich in die chinesische Gemeinde zu integrieren. Die Chinesen regelten ihre Angelegenheiten selbst und legten keinen Wert auf Einmischung von außen. Familie war für sie mehr als ein Begriff, den das County of Los Angeles definierte. Die Schwierigkeit bestand darin, überhaupt akzeptiert zu werden.
Auf der Suche nach einem Job war Jace die Straßen auf und ab gelaufen und hatte eine Abfuhr nach der anderen kassiert. Niemand wollte ihn, niemand traute ihm, und die meisten machten ihm das klar, ohne ein Wort Englisch zu sprechen.
Am Ende des dritten Tages, als Jace kurz davor war aufzugeben, hatte Tyler ihn in einen Fischmarkt gezerrt, um sich die Welse anzusehen, die in dem riesigen Aquarium im Schaufenster herumschwammen.
So, wie es seine Art war, war Tyler ohne zu zögern auf die Person zugesteuert, die am ehesten so aussah, als könnte sie ihm Auskunft geben, und hatte sie mit einer halben Million Fragen zu den Welsen überschüttet – wo kamen sie her, wie alt waren sie, zu welcher Art gehörten sie, waren es Männchen oder Weibchen, was fraßen sie, wie oft musste das Aquarium sauber gemacht werden.
Diese Person war eine winzige Chinesin mit der Haltung einer Königin, wunderschön angezogen, die dunklen Haare zu einem Knoten geschlungen. Sie musste um die fünfzig sein und sah so aus, als könnte sie ein Glas Sekt auf dem Kopf balancieren und damit bis ans Ende der Straße gehen, ohne einen Tropfen zu verschütten.
Mit hochgezogenen Augenbrauen hörte sie sich die Fragen an, die aus Tyler heraussprudelten, dann nahm sie ihn bei der Hand, ging mit ihm zu dem Aquarium und beantwortete sie geduldig eine nach der anderen. Tyler sog ihre Antworten auf wie ein Schwamm, als hätte er noch niemals etwas Faszinierenderes gehört. Er sah die Frau mit großen, staunenden Augen an, und ihr Herz schmolz dahin.
Tyler hatte diese Wirkung auf andere Menschen. Er hatte etwas an sich, das zugleich weise und unschuldig wirkte. Eine alte Seele, wie Madame Chen es nannte. Sie hatte sie zum Essen in das kleine Restaurant nebenan eingeladen, wo man sofort sprang, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen, den sie in knappen Worten auf Chinesisch äußerte.
Sie hatte Jace über seine und Tylers Lebensumstände ausgefragt. Die meisten Fragen hatte er so vage wie möglich beantwortet, aber er hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter gestorben war und dass sie keine Verwandten hatten. Er hatte zugegeben, dass sie Angst davor hatten, in Pflegefamilien gesteckt zu
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