Tödlich ist die Nacht
nicht Teil dieser Familie. Vielleicht gehörte sie aber auch zu den Müttern, die immer »nur das Beste« für ihre Kinder im Sinn hatten, was sich aus deren Perspektive meistens als etwas Schlechtes entpuppte.
Jace sagte sich, dass es dumm gewesen war, Hilfe bei ihr zu suchen und sie zu bitten, für ihn zu lügen. Andere Leute um etwas zu bitten hieß, die Kontrolle über eine Situation aufzugeben. Aber es war ihm als schnellste Möglichkeit erschienen, ein paar Hundert Dollar in die Hände zu bekommen. Geld, das er brauchte, um eine Zeit lang verschwinden zu können, wenn es nötig war. Er wollte kein Geld von seiner Bank holen, die im Übrigen auch keine richtige Bank war, sondern eine feuerfeste Kassette, die er in dem Luftabzug im Badezimmer ihrer Wohnung versteckt hielt. Von diesem Geld sollte Tyler leben, falls ihm selbst etwas zustieß.
Es war ihm etwas zugestoßen.
Es war an der Zeit zu verschwinden.
Im Schutz des Lieferwagens kroch Jace aus dem Karton. Er schlug den Kragen seiner Jacke hoch, zog die Schultern ein, hielt die Zeitung wie ein Dach über seinen Kopf und ging die Gasse hinunter. Er unterdrückte sein Hinken, versuchte so zu wirken, als habe er es nicht eilig, als wolle er nicht jeden Moment losrennen, als sei er ein ganz normaler Fußgänger. Er hielt den Blick auf den Boden gerichtet.
Was jetzt, J.C.?
Die Negative steckten in dem Umschlag unter seinem T-Shirt, von Leukoplastband gehalten. Er musste einen Platz finden, wo er sie verstecken konnte, weit weg von Tyler und den Chens. Offensichtlich waren sie jemandem viel wert. Er konnte sie als Tauschmittel benutzen, als eine Art Versicherung, falls alles noch schlimmer werden würde, als es ohnehin schon war. Er musste irgendwo einen sicheren, neutralen Platz für sie finden. Der öffentlich zugänglich war. Und er musste zu Abby Lowell.
Ein Auto bog in die Gasse ein, kam auf ihn zu. Vielleicht die beiden Cops.
Eine schwarze Limousine.
Eine gesprungene Windschutzscheibe.
Der Schreck fuhr Jace in alle Glieder und schoss durch seine Adern. Rasend schnell, ein lähmendes Gift. Er wollte hinsehen, damit sein Verfolger ein Gesicht bekam. Um dem Monster ein menschliches Antlitz zu verleihen. Um im hellen Tageslicht festzustellen, dass es nur ein kleiner, jämmerlicher Kerl war, der keine echte Gefahr darstellen konnte. Aber das war natürlich nicht wahr. Er wollte etwas, das im Besitz von Jace war, und selbst wenn Jace es ihm gab, würde ihn der Kerl wahrscheinlich trotzdem umbringen, weil Jace zu viel wusste – auch wenn er eigentlich überhaupt nichts wusste.
Der Wagen verlangsamte seine Fahrt, als er sich ihm näherte. Jaces Herz zog sich zusammen. Er befand sich auf der Fahrerseite. Konnte der Kerl ihn erkennen? Er sah die Bilder der vergangenen Nacht vor sich. Er saß auf dem Fahrrad, schleuderte sein Bügelschloss gegen die Windschutzscheibe. Er konnte sich nicht an das Gesicht des Fahrers erinnern; konnte sich der Fahrer an seines erinnern? Er hatte seinen Helm aufgehabt. Und seine Schwimmbrille.
Aus dem Augenwinkel heraus warf er einen Blick in das Auto, als es sich auf gleicher Höhe mit ihm befand.
Ein Quadratschädel, kleine, gemeine Augen, dunkle Haare, kurz geschnitten. Der Kerl war blass, sein Kinn zeigte bläuliche Schatten. Über seinem Nasenrücken klebte ein weißes Pflaster und im Nacken war ein schwarzes Muttermal zu sehen. Die Art Muttermal, die wie eine Warze herausstand, groß und hässlich.
Die Limousine schob sich an ihm vorbei wie ein Panther, der durch den Dschungel schleicht, leise, geschmeidig, unheilvoll.
Jace ging weiter, gab dem Drang, einen Blick zurückzuwerfen, nicht nach. Seine Beine waren weich wie Pudding.
Der Kerl fuhr zum Büro von Speed Couriers. Natürlich wusste er, wo Jace arbeitete. Er hatte seine Kuriertasche. Eine weitere Erinnerung schoss ihm durch den Kopf: wie er am Riemen seiner Tasche gepackt und nach hinten gerissen wurde. In der Tasche war nicht viel gewesen – eine Luftpumpe, ein Ersatz-schlauch, ein paar Blankoauftragsbestätigungen – mit dem knallroten Speed-Logo und der Adresse oben rechts.
Als Nächstes würde der Kerl herauszufinden versuchen, wo Jace wohnte, genau wie die Cops. Aber das würde keiner von ihnen schaffen, dessen war er sich sicher. Die einzige Adresse, die Speed von ihm hatte, war die des alten Postfachs. Und die einzige Adresse, die man dort hatte, wo diese Postfächer vermietet wurden, war die einer Wohnung, in der er mit seiner Mutter gelebt hatte, bevor
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