Tödliche Absicht
Schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt«, sagte er. »Wir müssen los. Das hat bis später Zeit. Aber sind Sie sich Ihrer Sache sicher?«
»Beide sind Außenstehende«, wiederholte Reacher. »Garantiert. Das steht in der Verfassung.«
13
Jede Großstadt hat einen Bereich, in dem der bessere Teil der Stadt in den schlechteren übergeht. Washington, D. C., bildete da keine Ausnahme. Die Grenze zwischen attraktiv und unattraktiv verlief in einer unregelmäßigen Schlängellinie. An einigen Stellen wurde sie von luxussanierten Korridoren durchbrochen. Anderswo fand der Übergang schleichend statt und entwickelte sich kaum merklich über Hunderte von Metern entlang von Straßen, in denen man an einem Ende dreißig Sorten Tee kaufen und am anderen Ende geklaute Schecks für dreißig Prozent ihres Werts verkaufen konnte.
Das für Armstrongs Auftritt ausgewählte Obdachlosenasyl befand sich auf halber Strecke im Niemandsland nördlich der Union Station. Im Osten lagen Bahngleise und ein Verschiebebahnhof. Im Westen führte eine Hauptverkehrsstraße durch einen Tunnel. Ringsum standen verfallene Gebäude, einige davon Lagerhäuser, andere leere oder bewohnte Wohnblocks. Das Obdachlosenasyl selbst entsprach genau Froelichs Beschreibung. Es war ein langer, niedriger einstöckiger Klinkerbau. Es hatte große Fenster, deren Metallrahmen die Außenmauern in gleichmäßigen Abständen durchbrachen. Daneben gab es einen Hof, der doppelt so groß wie die Grundfläche des Gebäudes und auf drei Seiten von hohen Ziegelmauern umschlossen war. Der ursprüngliche Zweck des Gebäudes ließ sich nicht mehr feststellen.
Es beherbergte jede Nacht fünfzig Obdachlose, die man morgens früh weckte und nach einem Frühstück wieder auf die Straße entließ. Dann stapelte man die fünfzig Feldbetten im Lagerraum, schrubbte den Fußboden und sprühte den großen Raum mit einem Desinfektionsmittel ein. Anschließend brachte man Metalltische und -stühle herein und stellte sie dort auf, wo sich die Betten befunden hatten. Hier konnte man jeden Tag ein Mittag- und ein Abendessen bekommen. Abends um neun Uhr fand dann die Rückverwandlung in einen Schlafsaal statt.
Aber dieser Tag war anders. Der Thanksgiving Day war immer anders, aber dieses Jahr besonders. Das Wecken ging etwas früher als sonst vonstatten, und das Frühstück musste schneller eingenommen werden. Daraufhin wurden die Übernachtungsgäste eine volle halbe Stunde vor der üblichen Zeit auf die Straße gesetzt – ein doppelter Schlag für sie, weil an Thanksgiving in der Stadt wenig los war und das Betteln an Straßenecken nicht lohnte. Die Reinigung des Raums erfolgte etwas gründlicher als sonst. Tische und Stühle wurden exakter aufgestellt. Außerdem waren mehr Freiwillige als sonst im Einsatz. Sie trugen neue weiße Sweatshirts mit dem leuchtend rot aufgedruckten Namen des Sponsors.
Die ersten Secret-Service-Agenten, die eintrafen, bildeten das Schusslinienteam. Sie brachten ein Messtischblatt in kleinem Maßstab und ein von einem Scharfschützengewehr entferntes Zielfernrohr mit. Eine Agentin schritt jeden Meter der Strecke ab, die Armstrong zu Fuß zurücklegen würde. Nach jedem Schritt blieb sie stehen, drehte sich um, sah durchs Zielfernrohr und nannte jedes Fenster und jedes Dach, das sie sehen konnte, denn ein potenzieller Scharfschütze würde sie von dieser Position aus ebenfalls sehen können. Dann identifizierte der Agent mit dem Messtischblatt das betreffende Gebäude und stellte fest, wie weit es entfernt war. Alles unter zweihundert Metern Entfernung markierte er mit schwarzem Filzstift.
Aber der Veranstaltungsort war gut gewählt. Die einzigen möglichen Scharfschützenstellungen befanden sich auf den Dächern der leer stehenden vierstöckigen Lagerhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Mann mit dem Messtischblatt trug insgesamt nur fünf schwarze Kreuze in gerader Linie ein. Er schrieb Mit Zielfernrohr kontrolliert, helles Tageslicht, 08.45h, alle verdächtigen Stellen markiert quer über den unteren Kartenrand, setzte seinen Namen darunter und fügte das Datum hinzu. Nachdem die Agentin mit dem Zielfernrohr ebenfalls unterschrieben hatte, wurde das Messtischblatt zusammengerollt und bis zu Froelichs Ankunft im Wagen der beiden verstaut.
Als Nächstes erschien eine Kolonne von Vans der Metro Police mit insgesamt fünf Hundeteams. Eines davon durchsuchte das Obdachlosenasyl. Zwei weitere nahmen sich die Lagerhäuser vor. Die beiden letzten
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