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Tödliche Absicht

Tödliche Absicht

Titel: Tödliche Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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bahnten ihm den Weg. Er schloss bis auf etwa hundert Meter auf und behielt diesen Abstand bei.
    »Entwischen können sie uns nicht mehr«, brüllte er.
    »Aber sich verstecken«, kreischte Neagley.
    Zehn Minuten später befanden sie sich zehn Meilen westlich von Grace und kamen sich vor, als hätten sie bei einem Boxkampf eine ordentliche Tracht Prügel bezogen. Reachers Kopf prallte bei jeder Bodenwelle gegen die Decke, seine Hände schmerzten, und seine Schultern hatten sich vor Anstrengung verkrampft. Der Motor heulte immer wieder auf. Er konnte den Fuß nur auf dem Gaspedal halten, indem er es bis zum Bodenblech durchtrat. Neben ihm wurde Neagley auf dem Beifahrersitz hin und her geworfen. Sie hatte es aufgegeben, sich mit den Armen abzustützen, weil sie fürchtete, sich dabei die Ellbogen zu brechen.
    Auf den nächsten zehn mörderischen Meilen verwandelte sich das Gelände fast unmerklich. Sie befanden sich buchstäblich mitten in der Wildnis. Die Kleinstadt Grace lag zwanzig Meilen hinter, der Highway zwanzig vor ihnen. Das Gelände stieg allmählich an, wurde felsiger und war von tiefen Einschnitten durchzogen. Überall wuchs noch Gras, das zwar hoch, aber auch dünner war, weil es flacher wurzelte. Und hier war der Boden mit Schnee bedeckt. Die vereisten Grashalme ragten aus einer fünfzehn Zentimeter hohen Schneedecke. Beide Geländewagen, deren Abstand unverändert hundert Meter betrug, wurden langsamer. Dann geriet die Verfolgungsjagd zu einer langsamen Prozession im Zwanzigmeilentempo. Sie krochen Steilhänge hinunter, tauchten unten tief in Schneewehen ein, wühlten sich im kleinsten Gang mit Allradantrieb hindurch und kletterten die Gegenhänge hinauf. Der unaufhörlich wehende Westwind sorgte dafür, dass die Leehänge schneefrei und die Luvseiten glatt und eisig waren. Bei leichtem Schneetreiben kam ihnen der Flockenwirbel waagrecht entgegen.
    »Bald sitzen wir fest«, meinte Neagley.
    »Sie sind von hier reingekommen«, sagte Reacher, »also müssen sie auch wieder rauskommen.«
    Sie verloren den Tahoe jedes Mal aus den Augen, wenn er in einen Einschnitt hinunterfuhr und sahen ihn nur, wenn sie sich auf einen Grat hinaufkämpften und er zufällig drei oder vier Grate vor ihnen auftauchte. Es gab keinen Rhythmus mehr, keine Koordination. Beide Geländewagen rutschten die steilen Hänge hinab und arbeiteten sich langsam die Gegenhänge hinauf. Kamen nur noch im Schritttempo voran. Reacher hatte den niedrigsten Gang eingelegt, und der Yukon rutschte und schlitterte in der Fahrspur des Tahoes. Weit voraus im Westen wütete der Schneesturm. Das Wetter verschlechterte sich zusehends.
    »Allmählich wird’s Zeit«, sagte Reacher. »In jeder dieser Schluchten liegen sie den ganzen Winter unter dem Schnee.«
    »Okay, gehen wir’s an«, sagte Neagley.
    Als sie ihr Fenster öffnete, wirbelte ein Schneeschauer in den Wagen. Sie griff nach der Heckler & Koch und stellte sie auf Dauerfeuer. Reacher gab Gas und pflügte so schnell durch die beiden nächsten Senken, wie der Yukon es zuließ. Dann bremste er auf dem dritten Grat und riss dabei das Lenkrad nach links. Der Wagen schleuderte und kam mit dem Beifahrerfenster nach vorn zum Stehen. Neagley beugte sich weit hinaus und wartete. Als der goldfarbene Tahoe hundert Meter vor ihnen über einem Grat auftauchte, gab sie einen langen Feuerstoß ab, bei dem sie auf seine Hinterreifen und den Tank zielte. Der Tahoe schien kurz zu verharren, überwand dann den vor ihm liegenden Grat und verschwand wieder.
    Reacher lenkte nach rechts, gab Gas und fuhr hinterher. Der Halt hatte sie wahrscheinlich weitere hundert Meter gekostet. Er pflügte durch drei Einschnitte und hielt auf dem vierten Grat. Sie warteten. Zehn Sekunden, fünfzehn. Der Tahoe tauchte nicht wieder auf. Sie warteten zwanzig Sekunden. Dreißig.
    »Wo zum Teufel steckt er?«, murmelte Reacher.
    Er ließ den Yukon auf der Luvseite durch den Schnee nach unten rutschen, gab wieder Gas, kroch auf der anderen Seite hinauf und über den Grat in den nächsten Abschnitt hinunter. Die Räder drehten durch, der Motor heulte auf. Er schaffte den nächsten Hang, hielt mitten auf dem Grat. Vor ihnen fiel das Gelände fünf bis sechs Meter tief in einen breiten Einschnitt ab. Sein Boden war mit einer dicken Schneeschicht bedeckt, aus der die vereisten Grashalme nur einen Viertelmeter ragten. Geradeaus vor ihnen war die Spur des Tahoes vom Vortag auf seinem Weg nach Grace nur noch undeutlich zu erkennen. Aber die

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