Tödliche Absicht
rollte. Die Reifenprofile waren voller Schnee, schleuderten kleine weiße Hieroglyphen in die Luft, während die Räder durchdrehten. Die Auspuffgase erschwerten ihm das Atmen. Er stolperte vorwärts und hievte rückwärts gehend das Heck hoch, wieder und wieder. Jetzt bewegte sich der Wagen schon einen halben Meter. Er packte fester zu. Der Westwind wehte ihm den Schnee ins Gesicht. Er zählte: Eins, zwei … drei. Eins, zwei … drei. Dann fing er an, dem Yukon rückwärts gehend zu folgen und ihn nach vorn zu zerren. Jetzt rollte der Wagen schon gut einen Meter. Er grub mit den Stiefeln Vertiefungen für seine Füße in den Schnee. Eins, zwei … drei . Beim letzten Drei schob er mit aller Kraft. Er spürte, wie der Yukon aus dem Graben zu klettern begann. Spürte ihn wieder zurückrutschen. Das Heck versetzte ihm einen harten Stoß in den Rücken. Er stolperte vorwärts und hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Nahm den bisherigen Rhythmus wieder auf. Er schwitzte trotz der Kälte und war außer Atem. Eins, zwei … drei . Er stemmte sich nochmals ein, und der Wagen hinter ihm verschwand plötzlich, sodass er rückwärts in den Schnee fiel.
Als er wieder auf die Beine kam, war der Yukon schon zwanzig Meter weiter. Neagley fuhr so langsam, wie sie nur konnte, ohne erneut stecken zu bleiben. Er rutschte und schlitterte hinter dem Wagen her und machte einen Satz nach rechts, um in die Fahrspur zu gelangen. Das Gelände stieg an. Neagley musste Gas geben. Er rannte, doch der Abstand wurde größer. Auf dem Grat wurde sie langsamer, sodass er den Griff der Tür zu fassen bekam, sie aufriss und bergab neben dem Yukon herstolperte, bis er genug Schwung hatte, um sich hineinzuwerfen. Er zog die Tür zu, und Neagley trat das Gaspedal durch. Die wilde Achterbahnfahrt begann von neuem.
»Zeit?«, kreischte sie.
Er bemühte sich, sein Handgelenk ruhig zu halten, und starrte auf die Uhr. Sprechen konnte er nicht, weil er zu sehr außer Atem war. Er schüttelte nur den Kopf. Die beiden Männer hatten mindestens zehn Minuten Vorsprung – entscheidende zehn Minuten. Der Tahoe würde sein Ziel in ungefähr zwei Minuten erreichen, und Armstrong sollte in weiteren fünf Minuten landen. Der Wagen raste Steigungen hinauf, sprang über Grate, landete in Schneewehen, wühlte sich hindurch und nahm die nächste Steigung in Angriff. Ohne Lenkrad, an dem er sich festhalten konnte, wurde Reacher wild hin und her geschleudert. Er starrte durch die Windschutzscheibe auf den Himmel im Osten. Die Morgensonne schien ihm in die Augen. Er suchte das Gelände vor ihnen ab. Nichts zu sehen. Kein Tahoe. Er war längst über alle Berge. Zurückgeblieben war nur seine Spur im Schnee: zwei tiefe Rinnen, die in der Ferne zusammenzulaufen schienen. Sie wiesen wie Pfeile auf die Kleinstadt Grace.
Dann änderte die Fahrspur plötzlich ihre Richtung, schwenkte neunzig Grad nach links und verschwand in einem in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Einschnitt.
»Was jetzt?«, fragte Neagley laut.
»Hinterher«, keuchte Reacher.
Der Einschnitt war schmal, fast wie ein Graben. Er führte steil bergab. Die Spur des Tahoes war ungefähr fünfzig Meter weit deutlich sichtbar, dann bog sie scharf rechts ab und verschwand hinter einem Felsblock von der Größe eines Hauses. Neagley bremste scharf und kam zum Stehen. Sie zögerte einen Augenblick, während Reachers innere Stimme Vorsicht! Hinterhalt ?, rief und ihr Fuß wieder aufs Gaspedal trat. Der Yukon geriet in die Fahrspur des Tahoes und rutschte unaufhaltsam den Steilhang hinunter. Dann stieß der Tahoe genau vor ihnen mit aufheulendem Motor rückwärts hinter dem Felsblock hervor. Er bremste schleudernd und versperrte ihnen den Weg. Neagley war aus ihrer Tür, noch bevor der Yukon ganz zum Stillstand gekommen war. Sie überschlug sich im Schnee, kam wieder auf die Beine und rannte nach Norden. Der Yukon geriet ins Schleudern und blieb in einer Schneewehe stecken. Reachers Tür war vom Schnee blockiert. Mit aller Kraft gelang es ihm, sie halb aufzudrücken und sich durch den Spalt hinauszuzwängen. Sah den Fahrer aus dem Tahoe springen, ausrutschen und hinfallen. Reacher wälzte sich zur Seite und zog die Steyr aus der Innentasche seiner Jacke. Umrundete das Heck des Yukon und kroch auf der linken Seite durch den Schnee nach vorn. Der Tahoefahrer hatte ein Gewehr, mit dem er rutschend und schlitternd durch den Schnee ruderte, um zwischen den Felsen Deckung zu suchen. Er war der Mann aus Bismarck, daran
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