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Tödliche Absicht

Tödliche Absicht

Titel: Tödliche Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lee Child
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passierte. Das Originalband zeigte mehr Einzelheiten als die Kopie, aber zu sehen war trotzdem nicht viel. Es war grau und milchig. Für Überwachungszwecke ausreichend, aber Preise wären damit nicht zu gewinnen gewesen.
    »Weißt du was?«, sagte Reacher. »Ich war dreizehn Jahre lang Cop und habe niemals etwas Wichtiges auf einem Überwachungsvideo gesehen. Kein einziges Mal.«
    »Ich auch nicht«, bestätigte Neagley. »Die Stunden, die ich so zugebracht habe!«
    Um sechs Uhr morgens hielt das Band abrupt an. Reacher warf die Kassette aus, spulte den zweiten Film bis zum Ende vor und begann wieder die geduldige Rückwärtssuche. Der Zeitzähler raste über fünf Uhr weg und war rasch bei vier Uhr angelangt. Nichts passierte. Der Vorraum lag einfach da: still, grau und leer.
    »Warum machen wir das heute Abend?«, fragte Neagley.
    »Weil ich ein ungeduldiger Mensch bin«, entgegnete Reacher.
    »Du willst fürs Militär punkten, stimmt’s? Möchtest diesen Zivilisten beweisen, wie richtige Profis arbeiten.«
    »Da gibt’s nichts mehr zu beweisen«, sagte Reacher. »Wir führen schon mit dreieinhalb Punkten.«
    Er konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Zwang sich dazu, aufmerksam hinzusehen. Vier Uhr morgens. Nichts passierte. Niemand kam, um irgendwelche Briefe zuzustellen.
    »Vielleicht gibt’s ja noch einen anderen Grund, dass wir das heute Abend machen«, bohrte Neagley weiter. »Könnte es sein, dass du deinen Bruder übertreffen willst?«
    »Nicht nötig. Ich weiß genau, wo ich im Vergleich zu ihm gestanden habe. Und was andere darüber denken, ist mir egal.«
    »Was ist mit ihm passiert?«
    »Er ist gestorben.«
    »Das habe ich mitbekommen. Aber wie?«
    »Er wurde ermordet. Bei einem dienstlichen Einsatz. Kurz nachdem ich die Army verlassen hatte. In Georgia, südlich von Atlanta. Geheimtreffen mit einem Spitzel, der Informationen über Geldfälscher besaß. Die beiden sind in einen Hinterhalt geraten. Joe wurde mit zwei Kopfschüssen getötet.«
    »Sind die Täter geschnappt worden?«
    »Nein.«
    »Schrecklich.«
    »Eigentlich nicht. Ich hab sie vorher erwischt.«
    »Was hast du gemacht?«
    »Was glaubst du?«
    »Sag schon.«
    »Es war ein Vater-und-Sohn-Team. Den Sohn habe ich in einem Swimmingpool ertränkt, den Vater verbrannt, nachdem ich ihn mit einem Dumdumgeschoss Kaliber 44 in die Brust getroffen hatte. Und die Moral von der Geschichte: Leg dich nicht mit mir oder den Meinen an. Nur wär es besser gewesen, die Typen hätten das schon früher gewusst.«
    »Gab’s irgendwelche Probleme?«
    »Ich bin schnellstens abgehauen. Hab mich eine Zeit lang nicht mehr blicken lassen. Konnte nicht zur Beerdigung.«
    »Scheußliche Sache.«
    »Den Kerl, mit dem er sich getroffen hat, hat’s auch erwischt. Unter einer Highway-Auffahrt verblutet. Eine Frau war auch dabei. Aus Joes Dienststelle. Seine Assistentin Molly Beth Gordon. Die haben sie auf dem Flughafen Atlanta erstochen.«
    »Ich hab ihren Namen auf der Gedenktafel gesehen.«
    Reacher schwieg. Das Überwachungsvideo lief rückwärts. Drei Uhr morgens, dann 2.53 Uhr, 2.40 Uhr. Nichts passierte.
    »Das Ganze war eine verzwickte Angelegenheit«, fuhr er plötzlich fort. »Eigentlich war er selbst daran schuld.«
    »Ein hartes Urteil.«
    »Er hat sich überschätzt. Ich meine, würdest du bei einem Treff in einen Hinterhalt geraten?«
    »Nein.«
    »Ich auch nicht.«
    »Ich würde die üblichen Vorsichtsmaßnahmen beachten«, sagte Neagley. »Du weißt schon: drei Stunden zu früh ankommen, die Umgebung inspizieren, mir Rückendeckung verschaffen, die meisten Zugänge blockieren.«
    »Aber Joe hat nichts dergleichen getan. Das Unglück war, dass Joe so taff ausgesehen hat. Einsfünfundneunzig groß, hundertzehn Kilo schwer, stämmig wie ein Bär. Riesige Pranken, ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt. Körperlich wirkten wir wie Klone. Aber im Wesen waren wir völlig verschieden. Joe war mehr geistig ausgerichtet. Irgendwie rein . Sogar naiv. Für ihn war alles eine Schachpartie. Er bekommt einen Anruf, er vereinbart ein Treffen, er fährt hin. Als ob er einen Läufer oder Springer bewege. Er hat einfach nicht damit gerechnet, dass jemand auftauchen und das ganze Schachbrett wegsprengen könnte.«
    Neagley schwieg. Das Band lief weiter rückwärts. Auf dem Bildschirm geschah nichts. Der Bürovorraum lag in fahlgrauem Licht.
    »Nachträglich habe ich mich darüber geärgert, dass er so unvorsichtig vorgegangen ist«, sagte Reacher. »Aber dann wurde

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