Tödliche Absicht
mir klar, dass ich ihm deswegen keine Vorwürfe machen durfte. Es ist ihm einfach nicht bewusst gewesen, wie gefährlich das Ganze war. Er dachte völlig anders.«
»Und?«
»Vermutlich war ich darüber wütend, dass ich ihm diese Sache nicht abgenommen habe.«
»Wäre das denn möglich gewesen?«
Reacher schüttelte den Kopf. »Ich hatte ihn seit sieben Jahren nicht mehr gesehen und wusste nicht, wo er sich aufhielt. Und ihm ging’s genauso. Er hätte um Unterstützung bitten sollen.«
»Zu stolz?«
»Nein, zu naiv. Darauf läuft’s letztlich hinaus.«
»Hätte er eine Chance gehabt? Am Tatort?«
Reacher verzog das Gesicht. »Diese Leute waren ziemlich gut, glaube ich. Halbe Profis. Trotzdem muss es irgendwann eine Möglichkeit herauszukommen gegeben haben. Aber dazu wäre eine blitzschnelle, rein instinktive Reaktion nötig gewesen. Doch Joes Instinkte waren alle seinem Verstand untergeordnet. Er hätte vermutlich erst mal Zeit zum Nachdenken gebraucht. Wie er es sonst auch tat. Das hat ihn auf andere schüchtern wirken lassen.«
»Naiv und schüchtern«, sagte Neagley. »Diesem Urteil würde sich hier niemand anschließen.«
»Denen muss er wie ein wilder Mann vorgekommen sein. Alles ist eben relativ.«
Neagley veränderte ihre Sitzhaltung, ohne den Bildschirm aus den Augen zu lassen.
»Achtung«, sagte sie. »Gleich beginnt die Geisterstunde.«
Der Zeitzähler zeigte 00.30 Uhr an und lief weiter rückwärts. Nichts passierte. Doch um 00.16 Uhr tauchten die Raumpfleger aus dem Halbdunkel des Korridors auf. Reacher ließ das Band weiter mit hoher Geschwindigkeit zurücklaufen, bis sie um 00.07 Uhr rückwärts gehend in Stuyvesants Büro verschwanden. Dann schaltete er auf normalen Vorlauf und beobachtete, wie sie wieder herauskamen und den Vorraum samt Arbeitsplatz der Sekretärin putzten.
»Was hältst du davon?«, fragte er.
»Sie machen einen ziemlich normalen Eindruck«, antwortete Neagley.
»Würden sie so ruhig wirken, wenn sie eben den Brief auf Stuyvesants Schreibtisch zurückgelassen hätten?«
Die drei beeilten sich nicht besonders. Sie wirkten weder schuldbewusst noch besorgt, weder gestresst noch aufgeregt. Sie sahen sich kein einziges Mal nach der Tür von Stuyvesants Büro um. Sie putzten nur rasch und effizient. Reacher ließ das Video wieder mit hoher Geschwindigkeit zurücklaufen, bis es genau um Mitternacht stoppte. Er warf die Kassette aus und schob die erste wieder hinein. Spulte das Videoband bis zu dem Augenblick zurück, in dem die drei kurz vor 23.52 Uhr den Vorraum betraten. Ließ es dann mit normaler Geschwindigkeit weiterlaufen und hielt es überall dort an, wo alle drei Raumpfleger deutlich zu sehen waren.
»Wo wäre der Brief also?«, fragte er.
»Froelich hat ganz richtig vermutet«, erwiderte Neagley. »Er könnte überall sein.«
Er nickte. Sie hatte Recht. Unter ihren Overalls und auf dem Putzwagen hätten die drei ein Dutzend Briefe in Stuyvesants Büro schmuggeln können.
»Wirken sie nervös?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Lass das Video weiterlaufen. Sieh dir an, wie sie sich bewegen.«
Die drei hielten geradewegs auf die Tür zu und verschwanden um Punkt 23.52 Uhr in Stuyvesants Büro.
»Zeig’s mir noch mal«, verlangte Neagley.
Reacher tat, wie ihm geheißen. Neagley lehnte sich mit leicht zusammengekniffenen Augen zurück.
»Ihr Energieniveau ist ein bisschen anders als beim Herauskommen«, stellte sie fest.
»Findest du?«
Sie nickte. »Etwas langsamere Bewegungen? Als zögerten sie?«
»Oder als fürchteten sie sich vor etwas, das sie dort drinnen tun müssen?«
Er ließ die beiden Szenen nochmals ablaufen.
»Ich weiß nicht recht«, meinte Neagley. »Irgendwie schwer zu interpretieren. Und jedenfalls nichts, was als Beweismaterial verwendbar wäre. Nur ein subjektives Gefühl.«
Sie sahen sich die Szenen noch mal an. Es gab keine wirklich auffälligen Unterschiede. Vielleicht wirkten die drei beim Hineingehen etwas weniger energiegeladen als beim Herauskommen. Oder einfach nur etwas müder. Andererseits hatten sie eine Viertelstunde in Stuyvesants Büro verbracht. Der Raum war verhältnismäßig klein, schon vorher sehr sauber und aufgeräumt. Möglicherweise hatten sie es sich zur Gewohnheit gemacht, dort drinnen außerhalb des Erfassungsbereichs der Überwachungskamera eine zehnminütige Pause einzulegen. Raumpfleger waren nicht dumm. Hatten statt eines Briefs ihre Füße auf den Schreibtisch gelegt.
»Ich weiß nicht
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