Tödliche Absicht
antwortete Reacher. »Würde keinem von ihnen eine Uhr abkaufen.«
Froelich nahm den Fuß vom Bremspedal und ließ den Wagen im Leerlauf weiterrollen. Sie blieb dicht am Randstein und trat auf die Bremse, als die hintere rechte Tür sich exakt auf Höhe der Öffnung des Leinwandtunnels befand. Nahm eine Hand vom Lenkrad und sprach in das am Handgelenk befestigte Mikrofon.
»Eins, bereit«, sagte sie.
Reacher blickte nach rechts in den Tunnel und sah, wie die Tür geöffnet wurde und ein Mann aus dem Haus trat. Das war Brook Armstrong, ganz ohne Zweifel. In den vergangenen fünf Monaten war sein Foto oft genug in den Zeitungen erschienen, und Reacher hatte vier Tage damit zugebracht, jede seiner Bewegungen zu beobachten. Er trug einen khakifarbenen Regenmantel, hielt einen ledernen Aktenkoffer in der rechten Hand und durchquerte den Tunnel. Ein Agent im Anzug sah ihm von der Haustür aus nach.
»Die Wagenkolonne war ein Täuschungsmanöver«, erklärte Froelich. »Das machen wir manchmal.«
»Mich hat sie irregeführt«, sagte Reacher.
»Erzählen Sie ihm nicht, dass dies keine Übung ist«, sagte Froelich rasch. »Denken Sie daran, dass er nichts weiß.«
Reacher rückte zur Seite, um Platz zu machen. Armstrong zog die Tür auf und stieg bei ihm ein.
»Morgen, M. E.«, sagte er.
»Morgen, Sir«, antwortete sie. »Das hier sind Mitarbeiter von mir, Frances Neagley und Jack Reacher.«
Neagley drehte sich halb um, und Armstrong streckte seinen rechten Arm aus, um ihr die Hand zu schütteln.
»Sie kenne ich«, sagte er. »Wir sind uns auf der Party am Donnerstagabend begegnet. Sie waren als Geldgeberin eingeladen, stimmt’s?«
»Tatsächlich ist sie eine Sicherheitsbeauftragte«, erklärte Froelich. »Wir hatten eine kleine Mantel-und-Degen-Komödie inszeniert. Eine Effizienzanalyse.«
»Ich war beeindruckt«, meinte Neagley.
»Ausgezeichnet«, sagte Armstrong. »Glauben Sie mir, Ma’am, ich bin sehr dankbar dafür, dass so viele Leute sich um mich kümmern. So viel Fürsorge habe ich gar nicht verdient. Wirklich.«
Er war großartig, fand Reacher. Aus seiner Stimme, seiner Miene und seinem Blick sprach die Faszination, die Neagley auf ihn ausübte. Als gäbe es für ihn nichts Schöneres, als sich mit ihr zu unterhalten. Und er besaß ein fantastisches Gedächtnis für Gesichter. Das war klar. Ein geborener Politiker. Dann wandte er sich mit einem strahlenden Lächeln Reacher zu und gab ihm die Hand.
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Mr. Reacher«, sagte er.
»Ganz meinerseits«, entgegnete Reacher, ebenfalls lächelnd. Dieser Kerl war ihm auf den ersten Blick sympathisch. Er besaß Charme und Charisma. Und selbst wenn man neunundneunzig Prozent davon als Wählertäuschung abstrich, konnte man ihn immer noch mögen.
»Sind Sie auch beim Sicherheitsdienst?«, fragte Armstrong ihn.
»Berater«, erwiderte Reacher.
»Nun, ihr Jungs leistet wirklich gute Arbeit. Freut mich, euch an Bord zu haben.«
Aus Froelichs Ohrhörer war leise eine Stimme zu hören. Sie fuhr an, folgte der Straße in Richtung Wisconsin Avenue, ordnete sich in den Verkehr nach Südosten in die Innenstadt ein. Die fahle Sonne war wieder verschwunden, und die Stadt wirkte wegen der dunkel getönten Scheiben grau. Armstrong ließ einen zufriedenen kleinen Seufzer hören und sah nach draußen, als fasziniere Washington ihn noch immer. Unter seinem Regenmantel trug er einen Anzug, ein Baumwollhemd und eine Seidenkrawatte. Er sah sehr groß aus. Reacher war fünf Jahre älter, sieben bis acht Zentimeter größer und zwanzig Kilo schwerer, aber er kam sich im Vergleich zu Armstrong klein, langweilig und schäbig vor. Und der Mann wirkte auch völlig authentisch. Man konnte Anzug und Krawatte vergessen und ihn sich in einer alten Jacke beim Holzhacken vorstellen. Er vermittelte den Eindruck eines ernsthaften Politikers, aber auch den eines Mannes, mit dem man Spaß haben konnte. Er sprühte förmlich vor Energie. Blaue Augen, kantige Gesichtszüge, widerspenstiges dunkelblondes Haar mit helleren Strähnen. Er wirkte fit. Aber nicht wie jemand, der sich im Fitnessstudio in Form hält, sondern wie jemand, der von Natur aus eine gute Konstitution hat. An seinen kräftigen Händen glänzte ein schmaler Ehering.
»Sie waren beim Militär, stimmt’s?«, wollte er wissen.
»Ich?«, fragte Neagley.
»Beide, vermute ich. Sie sind beide etwas misstrauisch. Er versucht, sich ein Bild von mir zu machen, während Sie vor allem an
Weitere Kostenlose Bücher