Tödliche Aktien
Gesicht, als ich über das langsam erwachende Fischerdorf blickte. Es war ein kalter grauer Morgen. Weißgekrönte Wellen schlugen gegen die Kaimauer. Ich fröstelte und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. Mein Kopf war müde und verwirrt.
Lange nach Mitternacht war ich nach Kirkhaven zurückgekehrt und hatte unruhig geschlafen. Höchst widersprüchliche Gefühle hatten mich heimgesucht, bis ich es um halb sechs nicht mehr ausgehalten hatte. Ich war aufgestanden, hatte ein paar Kleidungsstücke übergeworfen und war an dem niedergebrannten Bootsschuppen vorbei zu dem kleinen Sandstreifen am Meer hinuntergegangen.
Lange war ich am Vortag mit Rachel zusammengewesen und hatte das Gefühl, sie nun weit besser zu kennen. Sie faszinierte mich. Mit ihr zu reden bedeutete für mich eine ganz neue Art der Kommunikation. Außerdem ging mir allmählich auf, daß sie auch körperlich überaus anziehend war. Es war eine Schönheit, die sorgfältig hinter einer Reihe von Verteidigungslinien verborgen lag: den übergroßen Pullovern, dem leeren Blick bei dienstlichen Besprechungen, den vielen Stunden, die sie vor Computerbildschirmen verbrachte. Aber gestern abend hatte ich eine schöne junge Frau kennengelernt, mit einer anmutigen Figur, einer dunklen Haarflut, einer golden schimmernden Haut, einem warmherzigen Lächeln und tiefbraunen Augen, die Gefühl, Verständnis und Intelligenz gleichzeitig zum Ausdruck bringen konnten.
Ich merkte, daß ich da in etwas hineinrutschte. Ich empfand es als aufregend und beängstigend zugleich.
Mühsam stapfte ich am Strand entlang und paßte auf, daß ich außerhalb der Reichweite der gierig leckenden Wellen blieb, die sich über den morgendlich unberührten Sand ausbreiteten. Was tat ich bloß? Woran dachte ich? Rachel mochte ja faszinierend und reizvoll sein, aber sie war doch eine ziemlich merkwürdige Frau. Teil jener irrealen Welt, in die ich im Laufe des letzten Monats immer tiefer hineingeraten war – eine Welt, die unter diesem grauen, nördlichen Licht lag, eine Welt, in der die Virtuelle Realität eine entscheidende Rolle spielte, in der es einen Mord gab und ein Unternehmen, das bald viele hundert Millionen Dollar oder gar nichts wert sein würde, eine Welt, die mich unter erheblichen Druck gesetzt hatte und drauf und dran war, mir meinen Realitätssinn zu rauben.
Verzweifelt bemühte ich mich, wieder Tritt zu fassen, mich zu erinnern, wer ich war – ein erfolgreicher junger Trader bei Harrison Brothers mit ausgezeichneten Zukunftsaussichten. Ich hatte eine blendend aussehende Freundin, und mit viel Einsatz war es mir im letzten Jahr gelungen, eine Beziehung zu ihr herzustellen, die stabil und glücklich war. Gewiß, die vergangenen Wochen waren nicht leicht gewesen, aber das war vor allem meine Schuld. Ich hätte mir die verfahrene Situation von FairSystems ja nicht aufladen müssen. Mein Vertrauen zu Karen war grenzenlos, und ich wußte, sie vertraute mir auch. Dieses Vertrauen konnte ich nicht enttäuschen, ohne meine Selbstachtung zu verlieren.
Ich mußte Rachel klarmachen, daß nichts zwischen uns war und sein würde.
Ich wartete bis zehn, dann rief ich Karen an. Als sie sich am Telefon meldete, klang ihre schlafumflorte Stimme ausgesprochen sexy.
»Tut mir leid, daß ich dich wecke«, sagte ich. »Ich dachte, daß du schon auf bist.« Sonntag morgens hielt ich es mühelos bis elf im Bett aus, während Karen meist schon um acht aufstand.
»Oh, hallo, Mark. Guten Morgen. Nein, ich dachte, ich mach’ mir mal einen faulen Sonntag.« Sie klang etwas angespannt.
»Was hast du gestern abend gemacht?« fragte ich.
»Nichts«, sagte sie, und eine Spur von Ärger klang in ihrer Stimme an. »Ich war zu Hause und hab’ ferngesehen. Warum? Überprüfst du mich?«
Himmel, was war sie zickig heute morgen. Ich beschloß, vorsichtig zu sein. Eigentlich hatte ich sie angerufen, um ein bißchen mit ihr zu schwatzen, aber wir hatten einen schlechten Anfang gemacht. »Nein, ich war nur neugierig. Ich wollte mich ein bißchen unterhalten.«
»Gut, ich hab’ ferngesehen. Und was hast du gemacht?«
Verdammt! Ich hatte es herausgefordert. Ursprünglich hatte ich ihr die Wahrheit sagen wollen. Schließlich hatte ich nichts zu verbergen. Das war der eigentliche Grund meines Anrufs gewesen. Aber jetzt brachte ich es nicht fertig.
»Ich habe ein paar Gedichte gelesen.«
»Wow? Gedichte? Alles in Ordnung mit dir, Mark?«
»Ich lese gelegentlich Gedichte«, erklärte ich
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