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Tödliche Aktien

Titel: Tödliche Aktien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Ridpath
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vernahm ich das gequälte Aufheulen eines Automotors, der sich die gewundenen Gassen und steilen Steigungen des Städtchens hinaufmühte. Stolz erhoben sich drei Kirchtürme über die Hausdächer. Nicht von ungefähr heißt der Ort Kirkhaven – »Kirchhafen«. Links vom Hafen sah ich die Inchmündung, wie sie sich – zwischen dem Haus meines Bruders und dem Friedhof der Kirche am anderen Ufer – durch Fels und Sand hindurchwand. Narzissen säumten das Ufer.
    Dort auf dem Friedhof wollte ich ihn begraben. Mit Blick auf seine geliebte Werkstatt und im friedlichen Bannkreis des kleinen schottischen Dorfes.
    Ich schloß die Augen. Sofort sah ich den Leichnam vor mir, hingestreckt auf dem Boden des Bootsschuppens. Hastig öffnete ich die Augen. Würde ich sie jemals wieder schließen können?
    Seine linke Hand war halb geöffnet gewesen, als klammere sie sich an etwas. Die Stümpfe der beiden verstümmelten Finger zeigten nach oben. Diese beiden Gliedmaßen waren, gerade durch ihre Unvollkommenheit, zum Symbol unserer Freundschaft, unserer Verbundenheit geworden.
    Ich war sechs, Richard elf Jahre alt gewesen. Unser Vater war damit beschäftigt, die Terrasse im Garten zu pflastern. Begeistert kletterte ich auf den anderthalb Meter hoch geschichteten Steinen herum. Plötzlich geriet der Haufen ins Wanken. Richard stürzte herbei und stieß mich aus der Gefahrenzone, geriet aber selbst ins Stolpern und fiel. Die Steine knallten auf seine ausgestreckte Hand. Im Krankenhaus konnte man die zerschmetterten Fingerglieder nur noch amputieren.
    Er hatte mir damals das Leben gerettet. Hätte ich seines retten können?
    Häufig wird die Trauer von zwei heftigen Gefühlen beherrscht: Wut und Schuld. An diesem Morgen fühlte ich mich verdammt schuldig.
    Ich dachte an FairSystems. Das Unternehmen entwickelte weltweit die modernsten und leistungsfähigsten Systeme in einer zukunftsrelevanten Schlüsseltechnologie. Dabei hatte es weit größere und finanziell besser ausgestattete Konkurrenten hinter sich gelassen. Zusammen mit einem halben Dutzend anderer genialer Computerbastler in Amerika und England hatte Richard die Virtuelle Realität Wirklichkeit werden lassen. Ich hatte ihm Vorwürfe gemacht wegen der finanziellen Engpässe, in die er sein Unternehmen gebracht hatte, aber spielte das wirklich eine Rolle?
    Meine Gedanken wanderten zurück zu unserem letzten Treffen, dem Dinner bei mir zu Hause. Damals hatten wir uns mehr oder minder im Streit getrennt. Zwar wußte ich nicht mehr genau, was ich zu ihm gesagt hatte, aber ich erinnerte mich noch an den Tonfall – ziemlich wütend war ich gewesen. Himmel, wie tat mir das jetzt weh!
    Und dann hatte die Möglichkeit bestanden, einen Tag früher zu fahren, mit ihm zu reden, meinem Bruder zu helfen, ihm, der mir schon so oft geholfen hatte, und ich hatte es ihm abgeschlagen. Wäre er noch am Leben, wenn ich früher gekommen wäre? Ich hatte ihn im Stich gelassen. Lange würde ich brauchen, um mir das zu verzeihen.
    Ich stand in Richards Schuld. Tief in seiner Schuld. Nun würde ich mich wenigstens um das kümmern, was er hinterlassen hatte, sein Haus, seinen Besitz. Und um FairSystems.
    Langsam wurde mir kalt. Ich stand auf und ging zurück zum Robbers’ Arms. Als ich die kleine Diele durchquerte, hörte ich eine Stimme: »Morgen.«
    Ich blieb stehen. Ein hochgewachsener, schlanker Mann mit sauber gestutztem Bart stand in der niedrigen Tür. Er trug Jackett und Schlips.
    »Haben Sie einigermaßen geschlafen?«
    »Nicht besonders«, murmelte ich.
    Er musterte mich von oben bis unten und sagte dann: »Ich mach’ Ihnen erst mal was zum Frühstück.«
    Etwas zu essen schien mir plötzlich keine schlechte Idee zu sein. Also nickte ich.
    »Nehmen Sie hier Platz. Ich bin gleich wieder zurück.«
    Ich setzte mich in ein kleines Speisezimmer, und Minuten später drang der Duft von gebratenem Bacon herein.
    Zehn Minuten später erschien er wieder mit einer Tasse Tee und einem großen Teller voll Eiern, Würstchen, Bacon, Tomaten und vielen anderen Köstlichkeiten. »Bitte sehr. Stärken Sie sich erst mal.«
    Er ließ mich mit dem Frühstück allein. Sein Taktgefühl war mir sehr angenehm. Rasch leerte ich den Teller.
    Obwohl mir die frische Luft und das Essen gutgetan hatten, fiel es mir nach der schlaflosen Nacht immer noch schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich ging auf mein Zimmer, um zu telefonieren.
    Obwohl erst acht Uhr am Sonntagmorgen, meldete sich Daphne Chilcott am Telefon, als

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