Tödliche Aktien
er in den letzten Jahren für all das zuständig gewesen war, was wir von der Familie erwarten: Liebe, Beständigkeit, Geborgenheit. Und nun war ich allein.
In den nächsten Tagen suchte ich bei Karen Halt und fand ihn auch. Vielleicht revanchierte sie sich für die Sicherheit, die ich ihr gegeben hatte, als sie von ihrem Liebhaber verlassen worden war. Richards Tod nahm auch sie sichtlich mit, stärker, als ich gedacht hätte, aber sie gewann rasch ihre Fassung wieder und errichtete stählerne Mauern gegen den Schmerz. Ich wußte, wenn wir über ihn sprachen oder wenn ich weinte, wurden diese Mauern auf eine harte Probe gestellt, aber sie hielten. Nie weinte sie selbst, nie sprach sie über ihn. Immer hörte sie nur zu.
Am Montag ging ich zur Arbeit, innerlich wie leergebrannt. Dennoch, einen Tag lang zu Hause zu sitzen und Trübsal zu blasen war das letzte, wonach mir der Sinn stand. Ich wollte Menschen um mich haben und Ablenkung.
Es tat gut, wieder im Handelssaal zu sitzen, von Kursen, Renditen, Spreads und Basispunkten in Anspruch genommen zu sein und sich auf die unausweichliche Gewinn-und-Verlust-Rechnung am Monatsende zu konzentrieren. Zwar sah die Situation schon etwas besser aus, trotzdem stand fest, daß ich den April mit Verlust und nicht mit Gewinn abschließen würde. Ich spielte eine Reihe möglicher Transaktionen durch, hatte dann aber doch keine Lust, eine von ihnen in die Tat umzusetzen. Also begnügten Ed und ich uns damit, die Positionen, die wir hatten, im Auge zu behalten – zuzusehen, wie die Renault immer höher kletterte und wie die Anleihen mit zehnjähriger Laufzeit ihre zweijährigen Geschwister hinter sich ließen.
Alle zeigten Anteilnahme, ganz besonders Greg. Ed vermied das Thema, versuchte aber, mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Ich ertappte ihn mehrfach dabei, wie er mich ängstlich beobachtete. Überhaupt begegnete man mir mit großer Rücksichtnahme. Wenn ich zur Arbeit erscheinen wollte, okay; aber man erwartete nicht die üblichen Leistungen von mir. Zwar bildete ich mir ein, ich wäre wie immer, doch vermutlich täuschte ich mich da. Trotzdem ließ man mich gewähren, und das war alles, was ich wollte.
Die Gedanken, die mir seit der Nacht, in der ich Richard gefunden hatte, im Kopf herumwirbelten, begannen sich allmählich zu ordnen. Noch immer war der Schmerz über diesen Verlust fast unerträglich, aber ich war entschlossen, ihn in den Griff zu bekommen. Ich wußte, daß ich psychisch nicht sehr stabil war – ich hatte die Scheidung meiner Eltern und den Tod meiner Mutter nie ganz verwunden –, aber ich wollte alles tun, was in meiner Macht stand, um mit diesem neuen Schicksalsschlag fertig zu werden.
Schuld und Wut empfand ich. Die Wut entsprang der Schuld. Ich war wütend auf mich, weil ich Richards Tod nicht vorhergesehen und verhindert hatte. Aber irgendwie war ich auch wütend auf Richard. Mein großer Bruder, mein einziger Beschützer in einer feindseligen Welt, hatte mich im Stich gelassen, hatte sich wegen seines beschissenen Unternehmens umbringen lassen. Vielleicht hätte er noch gelebt, wenn er vernünftiger gewesen wäre und es verkauft hätte, wie ich ihm geraten hatte. Ich wußte, diese Gedanken waren unvernünftig und unfair, aber das Wissen darum gab meiner Wut nur noch mehr Nahrung.
Meine Mutter hatte sehr wütend werden können. Manchmal explodierte sie schon bei geringfügigen Anlässen: wenn ich zum zweitenmal an einem Tag mit schlammiger Hose nach Hause kam, wenn meinem Vater beim Abwaschen eine Kanne kaputtging, wenn der englische Sommer ihr einen Tag nach dem anderen verregnete. Bei solchen Anlässen wurde sie zum Naturereignis: eine Flut von englischen und italienischen Vorwürfen, Tränen und große Gesten, sogar Teller und Gläser, die durch die Gegend flogen (immer aus dem Besitz meines Vaters, nie aus ihrem). Doch das ging rasch vorüber. Nach einer halben Stunde hatte sie sich beruhigt, und nach einem Tag lächelte und lachte sie schon wieder. Mit einer Ausnahme. Als mein Vater uns verließ, dauerte der Ausbruch eine Woche; die Wut blieb, fraß an ihr und brachte sie schließlich um.
Und dann lebte die Wut in mir fort.
Ich hatte ihr Temperament geerbt. In der Schule gab es deshalb manchmal Probleme. Ständig war ich in Prügeleien verwickelt gewesen. Später hatte ich Zoff mit meinen Freundinnen gehabt. Daher hatte ich mich um Selbstbeherrschung bemüht, als ich älter wurde. Der Wertpapierhandel hatte dabei geholfen, denn rasch
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