Tödliche Beute
geheimen Polarexpedition verschwunden.«
»Du kennst es also?«
Er nickte. »Es gab Gerüchte, die Deutschen hätten insgeheim ein Luftschiff zum Nordpol geschickt. Bei einem erfolgreichen Abschluss sollte die Mission von der Propaganda als glorreicher Sieg der deutschen Kultur gepriesen werden, um die Alliierten einzuschüchtern. Die Deutschen leugneten jede Beteiligung, konnten aber nicht das Verschwinden von Heinrich Braun und Hermann Lutz erklären, zwei der bedeutendsten Luftfahrtpioniere. Dann kam der Krieg, und die Sache geriet in Vergessenheit.«
»Und das war alles?«
»Durchaus nicht. Nach Kriegsende tauchten Unterlagen auf, laut denen der Flug tatsächlich stattgefunden hatte, und zwar mit einem Luftschiff, das der
Graf Zeppelin
ähnelte. Angeblich wurde kurz vor dem Pol über Funk gemeldet, man habe etwas Interessantes auf dem Eis entdeckt.«
»Sie haben nicht gesagt, was genau damit gemeint war?«
»Nein. Manche Kollegen sind der Auffassung, es handle sich ohnehin um eine Fälschung. Womöglich um eine Erfindung von Joseph Goebbels.«
»Aber
du
hältst die Berichte für wahr.«
»Zumindest für absolut plausibel. Die technische Möglichkeit hat es mit Sicherheit gegeben.«
»Was könnte dem Luftschiff zugestoßen sein?«
»Such dir was aus. Ein Motorschaden. Ein plötzlicher Sturm. Eis. Menschliches Versagen. Die
Graf Zeppelin
war ein überaus erfolgreiches Modell, aber wir reden hier von extremen Wetterbedingungen. Andere Luftschiffe haben vergleichbare Schicksale erlitten. Es könnte auf dem Packeis zerschellt, Hunderte von Kilometern fortgetragen worden und dann im Meer versunken sein, als das Eis schmolz.«
Sein Gesicht hellte sich auf. »Lass mich raten! Du hast entsprechende Trümmerteile auf dem Meeresboden entdeckt.«
»Leider nein. Jemand hat das Schiff erwähnt … und, na ja, da bin ich eben neugierig geworden.«
»Ich weiß genau, was du meinst.« Er blieb vor einer Tür stehen. »Hier findet die Besprechung statt. Komm gern bald wieder vorbei, dann können wir uns weiter unterhalten.«
»Das werde ich. Vielen Dank für deine Hilfe.«
Austin war froh, dass Mac nicht hartnäckiger nachfragte.
Es gefiel ihm nicht, einen alten Freund mit ausweichenden Antworten abspeisen zu müssen.
MacDougal hatte schon den Türknauf in der Hand, hielt aber noch einmal inne. »Es ist ein komischer Zufall, dass wir gerade jetzt über die Arktis sprechen. Heute Abend findet ein großer Empfang statt. Anlass ist die Eröffnung einer neuen Ausstellung über Kultur und Kunst der Eskimos. ›Die Leute aus dem kalten Norden‹ oder so ähnlich. Hundeschlittenrennen, das volle Programm.«
»Hundeschlittenrennen in Washington?«
»Genau das hab ich auch gesagt, aber es ist offenbar tatsächlich so. Warum kommst du nicht hin und schaust es dir selbst an?«
»Vielleicht mache ich das.«
Auf dem Weg nach draußen hielt Austin kurz am Informationsstand und nahm sich eine Broschüre der besagten Ausstellung. Der exakte Titel lautete
Bewohner des eisigen Nordens
, und der Eröffnungsempfang war nur für geladene Gäste. Kurt überflog den Text und entdeckte den Namen des Sponsors: Oceanus.
Er steckte das Faltblatt ein und fuhr zurück ins Büro.
Einige Anrufe später nannte er eine persönliche Einladung sein Eigen, arbeitete noch eine Weile an dem Bericht für Gunn und fuhr nach Hause, um sich umzuziehen. Als er an den Bücherregalen in seinem kombinierten Wohn- und Arbeitszimmer vorbeiging, strich er mit den Fingern über die Rücken der ordentlich einsortierten Bände. Die Stimmen von Aristoteles, Dante und Locke schienen zu ihm zu sprechen.
Austins Faszination für die großen Philosophen war während seiner Studienzeit erwacht und dem Einfluss eines streitbaren Professors zu verdanken. Später stellte die Philosophie für Kurt einen Gegenpol zu seiner Arbeit dar und half ihm, die dunkleren Teile der menschlichen Seele zu ergründen. Im Verlauf seiner Aufträge hatte Austin zahlreiche Menschen getötet und andere verwundet. Sein Pflichtgefühl, sein Gerechtigkeitssinn und sein Lebenswille hatten ihn vor lähmenden und potenziell gefährlichen Selbstzweifeln bewahrt. Aber Austin war kein gefühlloser Mensch und nutzte die Philosophie als moralischen Kompass, um die Rechtmäßigkeit seiner Taten zu überprüfen.
Er nahm ein dickes Buch aus dem Regal, schaltete die Stereoanlage ein, so dass der perlende Klang von John Coltranes Saxophon ertönte, ging hinaus auf die Veranda und setzte sich. Nach
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