Toedliche Blumen
wohnen.«
»Natürlich, sie wohnen in der Stadt«, antwortete er.
»Wäre es möglich, mit ihnen Kontakt aufzunehmen?«
»Natürlich«, entgegnete er.
Im Auto kam die Einsamkeit über Louise. Diese beiden Seelen hatten sich wiedergefunden, um sich gemeinsam ihren Lebensabend zu vergolden. Und das war wohl auch gut so. Folke Roos’ Tage würden sich nun wohl noch länger und unausgefüllter gestalten, doch darauf war er nicht weiter eingegangen. Man wird sich wahrscheinlich auch daran gewöhnen, dachte sie und bog in Richtung der Bucht Havslättsbadet ab, um die Wellen zu sehen.
Ohne es eigentlich geplant zu haben, auch wenn die Sehnsucht bereits unterschwellig vorhanden gewesen sein musste, stand sie plötzlich mit dem Auto neben dem gelb angestrichenen Café am Wasser, das noch für ein paar weitere Monate geschlossen sein würde.
Die Übelkeit schien sich für eine Weile gelegt zu haben. Sie stieg aus und spürte den kühlen Wind, der stark nach Tang roch, welcher sich in dunklen Flecken entlang der Wasserlinie auf dem Strand ausbreitete. Vor Beginn der Badesaison würde der Strand gereinigt werden, der Sand würde durch die Wärme weicher und das Gras trocken werden, bis es unter den Füßen knisterte. Hoffentlich würde in diesem Jahr nicht wieder eine Kolonie von Kanadagänsen landen und die ganze Bucht mit ihrem Kot verschmutzen.
Sie spazierte langsam über die Grasfläche, die noch nicht zu wachsen begonnen hatte und stellenweise von Büscheln mit Großem Wegerich verdrängt worden war, der sich durch die feste Erdkrume gekämpft hatte. An der Wasserkante hielt sie inne. Der Wind fuhr durch den Stoff ihres Pullis. Sie knöpfte ihre Jacke zu. Blieb stehen.
Sie schaute geradewegs aufs Meer. Dem Horizont, der unendlichen Linie um den Erdball entgegen. Schaute zum Himmel, in die Sonnenstrahlen, die im Wasser glänzten, sich brachen und ihr direkt in die Augen fielen und die Pupillen dazu zwangen, sich zu verengen.
Sie blinzelte, als die Tränen sachte hinabrannen.
Viktoria merkte, wie sich die Lehrerin neben sie stellte. Sie roch nach Handcreme.
»Wach auf«, flüsterte sie mit freundlicher Stimme und berührte leicht ihre Schulter. »Du bist ja eine richtige kleine Träumerin geworden, Viktoria!«
Die Lehrerin schaute sie mit einem Blick an, den Viktoria nicht richtig deuten konnte. Sie nahm folgsam ihren Stift in die Hand, kaute ein wenig auf ihm herum und begann, die Zahlen aus dem Mathebuch abzuschreiben. Die Lehrerin strich ihr leicht über den Kopf, bevor sie zum nächsten Tisch ging.
Die Zahlen standen ordentlich untereinander aufgereiht im Rechenbuch, aber als sie versuchte, die Aufgaben auszurechnen, fühlte sie sich völlig leer im Kopf. Eine ganze Reihe von Ziffern sollte miteinander multipliziert werden, und noch dazu hohe Zahlen, eine nach der anderen. Drei mal vier oder vier mal drei wusste sie ja noch, aber als sie zu den höheren Tabellen kam, wurde es schon komplizierter. Sieben mal acht war genauso schwer wie acht mal sieben, wenn nicht noch schwerer, auch wenn letztlich dasselbe herauskam, so viel hatte sie schon begriffen. Aber bei dieser Aufgabe musste sie wohl raten. Manchmal hatte sie dabei Glück. Sie notierte eine Vier und eine Neun, neunundvierzig, spürte jedoch sofort, dass das nicht stimmte. Aber besser konnte sie es eben nicht. Sie bekam es einfach nicht heraus, und um Hilfe bitten wollte sie nicht. Es war ihr unangenehm, es immerzu tun zu müssen. Und das große Einmaleins konnte sie deswegen auch nicht besser.
Lina war ziemlich gut in der Schule. Man sollte es nicht glauben, denn sie sah nicht gerade wie eine Streberin aus, sie war weder mager, noch trug sie eine Brille. Nicht wie Helga, die Klassenbeste, die einen Papa hatte, der alles wusste und einen besonders anspruchsvollen Posten in irgendeinem Unternehmen bekleidete.
Lina hingegen hatte abgekaute Fingernägel mit abgeplatztem Nagellack in Knallrosa und noch dazu strähniges Haar. Aber sie war supernett und half Viktoria oft, wenn diese Hilfe benötigte. Und außerdem waren sie beste Freundinnen. Man musste sich seine beste Freundin gut aussuchen. Es war auch deswegen besonders gut, dass sie beide zusammenhielten, weil es nicht so viele in der Klasse gab, unter denen man wählen konnte. Und die mit ihnen zusammen sein wollten.
Lina merkte oftmals, wann sie Viktoria anstupsen und ihr unter die Arme greifen musste, aber heute schien es, als ob nicht einmal das helfen würde, da Viktoria kaum ihren Stift
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