Tödliche Ewigkeit
seinen eigenen Sohn hatte umbringen lassen? Nein, diese zweite Hypothese war für Ann undenkbar. Der Mann schien so verstört, als er von Steves Verschwinden erzählte … Es sei denn, er war abgrundtief zynisch und hatte die Trauer nur vorgetäuscht. Zu welchen Ungeheuerlichkeiten war der Mensch nicht fähig? Angelinas Enthüllungen waren ohne Zweifel äußerst wertvoll. Doch vielleicht gab es gar keinen Zusammenhang zwischen dem Mord an Lucie und Steves Verschwinden.
Diesmal war es die Tochter von Henry Buchanan, die mit leiser Stimme das Schweigen brach:
»Neulich haben Sie zu meinem Vater gesagt, Sie glaubten, mein Bruder würde noch leben …«
Jeff erhob sich.
»Ich habe zumindest den Beweis, dass er am Tag seines Verschwindens nicht tot war. Er hat Lucie Milton am folgenden Tag eine E-Mail geschickt. Darin hieß es, sie solle nicht an seinen Tod glauben. Es besteht also die Chance, dass er noch am Leben ist.«
Er trat auf sie zu und legte ihr mit einer Geste tief empfundenen Mitgefühls, die Ann sehr berührte, die Hand auf die Schulter.
»Danke, Angelina. Diese Informationen sind für uns von unschätzbarem Wert. Ich schwöre, wir werden alles tun, um Ihren Bruder zu finden.«
Zunächst einmal musste man Henry Buchanan zu fassen kriegen. Das Problem war nur: Jeff und Ann hatten keinen offiziellen Grund, polizeilich gegen ihn zu ermitteln. Die »Beweise«, über die sie verfügten, würden den Staatsanwalt niemals überzeugen, einen Haftbefehl zu erlassen.
Doch wegen Jeffs ausgefallenen Methoden und der Qualität seiner Spitzel gab es im NYPD mehrere hohe Beamte, die ihrem Kollegen einen Gefallen schuldig waren. Darunter ein Captain, der im Präsidium arbeitete und sich erinnerte, dass Jeff nicht unmaßgeblich zu seiner Beförderung beigetragen hatte. Deshalb war er bereit, ihm ein wenig unter die Arme zu greifen – allerdings weniger aus Dankbarkeit als aus der Sorge heraus, seine früheren Beziehungen zu dem verschrienen Sergeant könnten sonst ruchbar werden. Mulligan erhielt Zugriff auf die Kreditkarten-Datenbank und damit Zugang zum gesamten Zahlungsverkehr von Privatpersonen innerhalb der USA. Wie sich herausstellte, hatte Buchanan zwei Tage zuvor einen Flug nach Denver gebucht und dort einen Wagen gemietet. Gestern hatte er an einer Tankstelle in Silverthorne, am Beginn des Highway 9, vollgetankt.
Bei einem Blick auf die Landkarte stellten Jeff und Ann fest, dass sich diese Tankstelle auf der Strecke von Denver nach Steamboat Springs befand. Obwohl sich seine Fährte danach verlor, gingen sie davon aus, dass Buchanan anschließend den Highway 40 genommen hatte, um der Spur seines Sohnes zu folgen. Warum aber, gab Ann zu bedenken, hatte er keine Maschine nach Hayden Airport genommen, obgleich dieser nur eine halbe Fahrstunde von Steamboat Springs entfernt lag? Wahrscheinlich, so meinte Jeff, weil es kaum direkte Flüge zwischen New York und diesem kleinen Flugplatz gab. Sicher war der alte Herr in Eile … Aber weshalb? Was suchte er? Wusste er, dass sein Sohn lebte und wo er sich verbarg?
Sie beschlossen, nach Steamboat Springs zu fahren. Vielleicht würden sie ihn dort finden oder wenigstens Hinweise, die auf seine Spur führten …
Ann suchte Woodruff auf und bat um drei Urlaubstage, wobei sie mit einer gewissen Bitternis hinzufügte, dass man sie wohl nicht besonders vermissen würde. Der Lieutenant machte ihr ein Zeichen, die Tür zu schließen.
»Detective«, sagte er, »ich bitte Sie um etwas Geduld. Ihre Situation ist nicht leicht, ich weiß. Sie fühlen sich ins Abseits gedrängt.«
»›Gemobbt‹ wäre der treffendere Ausdruck …«
»Ich werde Ihnen etwas anvertrauen. Vor Ihrer Ankunft hier hatte ich nur einen wirklich guten Cop in dieser Abteilung: Mulligan. Wenn ich Sie gerade ihm zugeteilt habe, dann mit dem Ziel, aus Ihnen einen zweiten zu machen. Sie haben das Potenzial und das Format dazu. Aber Mulligan ist ausgerastet, und jetzt befinden Sie sich in einer heiklen Lage. Nicht aus eigener Schuld, sondern weil die anderen Detectives auf dieser Etage weniger begabt und deshalb bestrebt sind, das Niveau im Team nach unten zu ziehen. Vor allem Millar, der alle Kollegen gegen Sie aufgehetzt hat. Das missfällt mir sehr.«
»Ich dachte, Millar wäre ein exzellenter Ermittler …«
»Ich konnte Ihnen doch nicht sagen, dass ich Sie einem Idioten zuteile.«
Ratlos zog Ann die Augenbrauen hoch.
»Aber ich arbeite an dem Problem«, fuhr Woodruff unbeirrt fort. »Es wird
Weitere Kostenlose Bücher